Die Kolumne der SAfW-D

Folge 8
Bevor ich meine ausweglose Situation weiter schildere, möchte ich mich für die vielen Zuschriften bedanken. In erster Linie bei dem Mann, der mir angeboten hat, mich bei topographisch herausfordernden Fahrten zu chauffieren. Sozusagen als Rotkreuzfahrer für Spitexangestellte. Ebenso bedanke ich mich für das Jobangebot eines Wundambulatoriums. Bei Besichtigung des dazugehörigen Parkplatzes musste ich leider feststellen, dass die Parkfelder sehr schmal sind.
Eine Leserin schreibt, dass sie bei engen Strassenverhältnissen bei Gegenverkehr jeweils sofort ausgestiegen sei und den Autoschlüssel gleich dem Gegenüber mit der Bitte überreichte, ihren Wagen zurückzusetzen. Fast immer hätten es die Fahrer dann bevorzugt, im eigenen Auto rückwärtszufahren. Gute Strategie, danke dafür. Das werde ich gerne ausprobieren. Vielen Dank an Alle, die mir ehrlich geschrieben haben, dass auch sie nicht gut rückwärtsfahren können. Ich fühle mich gleich weniger als Autoversagerin. Eine Leserin ist entschieden der Meinung, dass Rücksicht etwas Gutes ist, und setzt sich vehement dafür ein. Nicht alles Rückwärtige sei schlecht, moniert sie (hier erlaube ich mir die Bemerkung, wenn man sich dem Rückwärtigen zuwendet, man sich sozusagen wieder in der Vorsicht befindet). Dazu mehr am Ende dieser Kolumne. Aber «zu-rück» zu meiner Geschichte, ihr erinnert euch...
Ein zweiter Fahrer kommt von hinten an den Ort des Geschehens, steigt aus und grüsst freundlich… Mein Kontrahent fühlt sich gleich eingeladen, seinen Unmut auf der Stelle kundzutun und weiht den Kollegen sofort in unsere verkeilte Situation ein. Mit allerlei Superlativen weiss er meine Fahrschwäche blumig auszuschmücken.
Der Mann von hinten – ich nenne ihn hier Chrigu - hört aufmerksam zu, unterbricht nicht, schaut dem Entrüsteten direkt in die Augen und hält still, bis sich der Redeschwall endlich erschöpft. Dann dreht er sich vollständig zu mir um und fragt mit einer Ruhe, die meines Wissens nur im Berner Oberland möglich ist: «Ude – Frou Chohler, wi geits?»
Ungläubig öffne ich meine Augen, schaue den Mann an und weiss blitzartig, er wird mich retten. Nach nur dieser einen Frage fasse ich volles Vertrauen zu ihm. Und ich frage mich, welche Ausbildung in Kommunikationspsychologie und Rhetorik er wohl besucht hat. Zuerst dieses aktive Zuhören, dann das vorbehaltlose Zuwenden – auch physisch. Wertfrei, interessiert, ohne Vorurteil, einfach so: «Ude, Frou Chohler wi geits?» mit echtem, ergebnisoffenem Interesse. Es ist so wohltuend. Ich nehme mir vor, meinen Klient*innen genau so zu begegnen. Ausblenden, was ich an Vorverurteilungen im Stützpunkt gehört habe, zuerst ohne Einschränkung zuhören, dann zuwenden – dann handeln. Ich bekomme fast ein bisschen Freude an meiner Situation und merke, hier erteilt mir einer gerade eine wichtige Lektion.
Meine Stimme tönt schon wieder etwas zuversichtlicher als ich antworte: «Äh, ich habe mich etwas festgefahren, sonst aber gut. Danke der Nachfrage.» Gödu ist ebenfalls verblüfft, atmet scharf und tief ein und – schweigt.
Chrigu wendet sich wieder ihm zu und sagt: «Das mag sein, dass sie nicht rückwärtsfahren kann, dafür kann sie Beine einbinden wie niemand sonst. Und mit den Schläuchen an deinen “Scheichen“ – das habe ich schon vor Jahren im Turnverein gesehen - würde ich es an deiner Stelle mit ihr nicht ganz verscherzen, könnte sein, dass du Frau Kohler auch mal brauchst. Da kannst du dann lange eine Andere suchen, die ihren Job gleich gut macht. Meine Mutter hatte sechs Jahre lang offene Beine, dann ist Frau Kohler gekommen und hat sie überzeugt, sich diese einbinden zu lassen, hat nicht lockergelassen, und hat ihr hartnäckig immer wieder die Notwendigkeit erklärt. Die Verbände von Frau Kohler sind nie verrutscht, waren nie zu fest, nie zu locker. Die Wunden sind abgeheilt und meine Mutter hat jetzt Strümpfe und die ziehe ich ihr jeden Tag an.»
Gödu sagt nichts, steigt nach kurzem Zögern in sein Fahrzeug. Er startet den Motor und fährt rückwärts. Immer wieder muss er korrigieren, seine Fahrweise wirkt insgesamt unsicher. Chrigu und ich schauen uns an – es braucht keine Worte. Wir verabschieden uns, ich bedanke mich herzlich. «Scho guet» sagt er und wir setzen unseren Weg fort. Dem Gödu winke ich beim Kreuzen freundlich zu.
Moral der Geschichte: Lernt Beine einbinden – es kann euch und eure Klient*innen aus schwierigen Situationen befreien und wenn schon nicht Leben retten, so doch die Qualität desselbigen entscheidend verbessern – auf beiden Seiten! Und ja, liebe Leserin E., nicht alles Rückwärtige ist schlecht – aber nur wenn es dem Vorwärts dient.
Bis zum 13.Dezember! Keine Ahnung über was ich schreiben werde – darum lasse ich euch für einmal im Ungewissen…
e.kohler@safw.ch
Folge 7
Ich mag Wörter und deren Bedeutung die die Silbe «Rück» enthalten nicht. Rückwirkend – rückwärts – rückblickend – Rücksicht – rückständig – zurückgeblieben – zurechtrücken – rücksichtsvoll –– Rückkehr – Rückspiegel – Rücktritt – abrücken – mit dem Rücken zur Wand – Rück-halt – den Rücken zugewandt – zur Seite rücken – rück mal ein Stück – einrücken. Höchstens mit «ver-rückt» kann ich mich anfreunden. Lieber stelle ich mich dem Leben und seinen Herausforderungen vorwärts, voll frontal.
Soren Aabye Kirkegaard sagt: «Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden». Auch damit habe ich ein Problem, mein Leben verstehe ich rückwärts meist noch weniger als vorwärts. Wohl nicht zufällig habe ich mit meinem Rücken Probleme, hinterrücks und rücklings verweigerte mir eine Bandscheibe ihre Dienste. Darum schaue ich lieber vorwärts, zu viel Rücksicht lässt uns die Vorsicht verpassen.
Wenn ich voller Rücksicht bin, wie soll ich gleichzeitig nach vorne schauen und meine Klient*innen in ihrer Gesundheitskompetenz weiterbringen? Ihnen einen Weg aufzeigen? Und mich selbst weiterbringen? Ältere Menschen schauen ohnehin zunehmend in den Lebens-Rückspiegel und sehen, dass früher alles besser war. Dass der Rückspiegel das Zurückliegende verzerrt und nur einen kleinen Ausschnitt zeigt, merken sie oft nicht. Die Menschen fixieren diesen Blick zurück, das lässt sie Neues verpassen und Zurückliegendes glorifizieren. «Ich war doch noch nie krank, ich hatte noch nie etwas an meinen Beinen, ich verstehe einfach nicht, wieso die jetzt offen sind. An mir kann es nicht liegen, ich habe nichts gemacht». An uns Wundexpert*innen liegt es dann, die Klient*innen abzuholen und ihnen und ihren Wunden ein Vorwärts aufzuzeigen. Dies fällt mir wesentlich leichter als das Rückwärtsfahren. Im Zug und Bus wird mir schlecht, im Auto kann ich es einfach nicht. Kurvige Strassen über längere Zeit rückwärtszufahren, ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit, da hilft auch keine Rückfahrkamera. Eine ver-rückte Hirnzelle lässt mich das Steuer jeweils zuverlässig exakt in die falsche Richtung lenken und ich komme vom Weg ab.
Die Krux bei der Spitex ist aber, dass ich zu den abgelegensten Häusern, bei jedem Wetter und auf allen unmöglichen Strassen unterwegs bin. Und Getreu Murphys Gesetz, kommt mir jedes Mal ein landwirtschaftliches Fahrzeug entgegen, wenn ich maximal weit von der nächsten Ausweichstelle bin und es an mir wäre, rückwärtszufahren. Zudem ist meist ein Mann am Steuer und ich zu allem Übel noch in einem Spitexauto. Ein klassisches Klischee, die Frau kann nicht Autofahren und es trifft in diesem Moment leider hundertprozentig zu. Emanzipation hin oder her. Also nur fürs Rückwärtsfahren, vorwärts kann ich supergut lenken. Sagt mein Bruder, er ist Lokomotivführer und muss es wissen.
Ich habe mir für diese ausweglosen Fälle eine Strategie zurechtgelegt, ich spiele Mikado. Wer zuerst bewegt hat verloren. Darum bleibe ich, wo ich bin, und weil ich die zunehmend wütenden Gesichter der Männer und ihr Gefuchtel nicht aushalte, schliesse ich sofort die Augen, bis ich höre, dass mein Gegenüber rückwärtsfährt. Dann setze ich sofort nach, bedanke mich mit meinem freundlichsten Gesicht und winke erlöst. Dies hat jahrelang gut funktioniert und ich war mit mir im Reinen. Bis zum Tag X. Ein Geländewagen kommt mir an engster Stelle entgegen. Ich sitze im Auto, schliesse die Augen und warte. Lange. Sehr lange. Anstelle des erlösenden Motorengeräuschs höre ich eine Türe aufgehen und mit lautem Knall wieder schliessen. Mir schwant Übles, schon wird die Fahrertüre meines Autos unsanft aufgerissen, mir bleibt gerade noch Zeit, mein Namensschild zu entfernen. Nicht schwierig sich vorzustellen, was jetzt kommt, ich erspare euch den genauen Wortlaut. Nur so viel, frauenfeindlicher geht es nicht mehr und ich sehe keine Möglichkeit, mich zur Wehr zu setzen, da ich gerade jetzt wenig Gegenargumente finde. Einzig ein «nicht alle Frauen können nicht rückwärtsfahren, es gibt Viele, die können das sehr gut – nur ich nicht» wage ich zu piepsen, das ärgert den Mann noch viel mehr. Besser still sein und zählen – wie immer in schwierigen Situationen. Ich atme tief in mein Bauch-Chakra. Der Mann steigert sich von einem fortissimo zu einem fortissimo forte.
Da höre ich ein Motorengeräusch. Ein Blick in den Rückspiegel – wie eingangs erwähnt bringt ja nie was Gutes – bestätigt das Horrorszenario. Ein weiteres landwirtschaftliches Fahrzeug steht hinter meinem Auto. Ich bin eingekeilt, es gibt nun weder ein Vor - noch ein Rückwärts. Ich beschliesse, meine Arbeit bei der Spitex zu kündigen und mich in einem Wundambulatorium mit hauseigenem Parkplatz zu bewerben. Augen schliessen und weiterzählen – etwas Besseres fällt mir für den Moment nicht ein. Da höre ich hinter meinem Rücken auch schon Schritte in meine Richtung, das zweite Unheil naht. Eine Stimme sagt: «Ja guten Tag, Frau Kohler» - Pause – «Sälü Gödu».
Hier muss ich nun leider unterbrechen. Weil meine Kolumnen immer länger werden und der rollende T. und der fliegende M. endlich lernen müssen, sich in Geduld zu üben. Nachtrag: Gödu heisst natürlich nicht Gödu - ich aber schon Frau Kohler
Bis am 13. November
e.kohler@safw.ch
Folge 6
Ich war an einer Beerdigung, darum habe ich nicht am feministischen Streiktag teilgenommen. Ausnahmsweise habe ich mit meinem Credo gebrochen, nie an Beerdigungen unserer Klientel teilzunehmen. (Wo kämen wir hin, wenn wir zu allen Beerdigungen fahren würden? Das wäre dann wieder “typisch Spitex“, die können sich ja nicht abgrenzen).
Mit der verstorbenen Frau verbindet mich eine ungewöhnlich gewöhnliche Geschichte. Wobei das Ungewöhnliche immer unter dem Gewöhnlichen liegt und erst mit der Zeit zum Vorschein kommt.
Der Start unserer Zusammenarbeit war harzig. Sie wurde von der Hausarztpraxis und ihren Angehörigen mehr oder weniger genötigt, die Spitex zur Wundpflege zu akzeptieren. Die Frau wollte aber keine Spitex, sie wollte niemanden im Haus und schon gar nicht das beschriftete Auto neben dem Haus. Was denken auch die Leute im Dorf?
Entsprechend ihr Empfang, 155cm Ablehnung und Empörung traten mir beim ersten Besuch gegenüber, sogar die Geranien auf den Fenstersimsen wirkten mürrisch. Die Frau, fest entschlossen die Spitex bei erster Gelegenheit wieder loszuwerden, hat sich wahrlich Mühe gegeben, mich nachhaltig zu vertreiben.
Die Wundursache war bald geklärt: Schwellung und Druck als Wundursachen, gute Fusspulse, kein Diabetes, angiologisch blande Biografie. Also, Kompression und Druckentlastung. Zwei überaus komplexe Themen bei Menschen, die meinen, keine Hilfe zu benötigen. Wir diskutierten, lamentierten, parlierten, manipulierten und lavierten beide mit maximalem Einsatz.
Ich fragte sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit in Prozenten ist, dass sie die Kompressionsverbände belässt. «Zehn Prozent» erwiderte sie.
Darauf steige ich generell nicht ein. Ich erklärte, dass ich eine Zusicherung von mindestens fünfzig Prozent brauche, damit ich überhaupt eine Kompression anlege. Sie erhöhte auf dreissig, ich kam ihr bei vierzig entgegen. Wir besiegelten den “Vertrag” per Handschlag. Meine Erfahrung zeigt, dass wenn ich Vereinbarungen so abschliesse, sich die Klienten eher daranhalten.
Nicht in diesem Fall: jedes Kompressionssystem wurde entfernt, die Kompressionsstärke als zu schwach oder zu stark kritisiert, immer wieder selbst neu eingebunden, hinterfragt, abgelehnt und verurteilt. Bei jedem Besuch ein erneutes Feilschen um weniger Einsätze und mehr Selbstbestimmung, bei gleichzeitiger Erwartung einer Turbowundheilung. Sie hat mich richtig geärgert und ich habe sie kräftig zurückgeärgert.
Ein erster Teilerfolg brachte der Zinkleimverband, längere Intervalle, weniger Schmerzen. Ich eroberte einen fixen Platz auf dem Schämeli in der Küche, zwischen Tisch, Spüle und Abfalleimer. Sie sass auf einem Stuhl und legte die Beine auf`s Taburettli. Ich deutlich tiefer auf dem Schämeli, hatte den Eindruck, sie schaute gerne auf mich herab. Nach Langem dann endlich Tauwetter. Ein zubereiteter Minzentee stand plötzlich bei meinem Eintreffen bereit. Becken und Waschlappen waren gerichtet und neue Diskussionsthemen wurden zugelassen.
Während ich meine Arbeit verrichtete liess mich die Frau Schritt für Schritt in ihr Leben eintauchen. Erzählte von schwierigen Zeiten durch den frühen Tod ihres Mannes, zwei Kinder allein gross- und wohlerzogen, Haus und Garten selbst bewirtschaftet, alle Kleider selbst genäht oder gestrickt, dazu eine Arbeit im Verkauf. Zu einem tiefst möglichen Lohn ohne zu murren. Alle Grosskinder gehütet. An der Wand in der Küche hingen ungefähr zehn kleine, gestickte Bilder. Sie zeigten die Hausfrau beim Waschen, beim Bügeln, beim Kochen, beim Flicken, beim Putzen, beim Vorlesen, beim Pflegen - alle selbst gestickt. Diese waren ihr ganzer Stolz. Sie zeigten ihr Leben und ihre Ideale. Wir sprachen über den feministischen Streiktag, Rollenvorstellungen und Werte. Wir waren uns fast nie einig. Auf meinem Schämeli sitzend kam ich buchstäblich nicht auf Augenhöhe. Sie war die Chefin punkto Haushaltsführung, guten Benehmens und Frauenfragen.
Dann bekam die Frau eine Diagnose, die sie zu einer Operation zwang. Bei meinem letzten Besuch vor dem Eintritt ins Spital war sie sehr aufgeregt, hatte Angst und war sichtlich aufgewühlt. Sie wollte noch vieles regeln, zum Beispiel, dass ich verspreche, auch nach dem Spital die Wundversorgung zu übernehmen, und dass ich an dem baldigen feministischen Streiktag doch teilnehme. Obwohl sie erst dagegen war: «Wehren Sie sich, gehen Sie hin. Ich war in meinem Leben immer zu still. Ich habe mich nicht für bessere Löhne eingesetzt, obwohl ich das Geld gebraucht hätte. Setzen Sie sich für die Mitarbeitenden der Spitexorganisationen ein. Ihre Arbeit ist wichtig, das habe ich erst jetzt gemerkt. Lange habe ich schlecht von ihnen gedacht».
Dann hat sie geweint und gefragt: «Warum tut es so weh, von meinem Heim wegzugehen?» Ich bin ihr die Antwort schuldig geblieben, weil ich nicht die richtigen Worte fand. Ich habe ihr versprochen, mich für Frauenanliegen und speziell für Spitexangestellte einzusetzen. Und versichert, dass ich mich freue, sie weiter betreuen zu dürfen. Sie versprach im Gegenzug, nie mehr zu maulen. Und ich stellte in Aussicht, nur noch selten ärgerlich zu werden und schenkte ihr einen Gutschein für fünfmal maulen – auch ohne Grund.
Wir konnten beide nicht ahnen, dass ausgerechnet am feministischen Streiktag ihre Beerdigung sein würde. Und plötzlich fühlte es sich nicht mehr richtig an, nach Bern zu reisen. Auf der hintersten Bank der Kirche erfuhr ich, dass die Verstorbene alle Erwartungen als Frau, Mutter und Grossmutter erfüllt hat. (Am Schluss sogar auch noch fast die der Spitex). Ich zollte ihr Respekt, Anerkennung und Bewunderung und versprach ihr im Geist eine Kolumne. Mit dem Ziel, die Arbeit und das Pflichtbewusstsein dieser Generation Frauen zu ehren und zu würdigen.
Wenig später habe ich dann die richtigen Worte in einem Buch gefunden und wusste sofort: kein Mensch kann es treffender schreiben als Kim de L`Horizon in einem Brief an die Grossmutter (allerdings kann auch kein Mensch verstörender schreiben. Ich habe Sie gewarnt, falls Sie das Buch lesen wollen).
“Ich denke an Sonntagsspaziergänge in Sonntagskleidern. […] Ich denke an die Heerscharen von Hausfrauen, deren Hauptbeschäftigung darin bestand, die Decken und Kleider neu zu ordnen und zu flicken. Ich denke an die Hälfte der Gesellschaft, die für ihre Arbeit nicht entlohnt wurde. Ich denke an den Stolz, wenn du mir erzählst, wie du – nachdem die Kinder gross waren – darauf bestanden hast, arbeiten zu gehen. […] Ich denke an die Gefühle von Hausfrauen. An die enorme Identifikation, die ihr mit eurem Haushalt gehabt haben müsst. An das Gefühl, dass euer Haus euer Körper ist. Eine unaufgeräumte Ecke, von einem Gast gesehen, muss wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein; all die Scham und die Angst, nicht sauber genug, perfekt genug […] zu sein. Ich denke an den Zwang, das Bild einer «guten Familie» aufrechterhalten zu müssen. Eine gute Familie ist eine gewöhnliche Familie. «Gewöhnlich» bedeutet: zu einer Ordnung gehörend. Der Ordnung. Wenn ich an dein Leben denke, denke ich an ein Leben, das für andere gelebt wurde”.*
Euer Haus ist euer Körper – darum tut es so weh es zu verlassen. Leider weiss ich das erst jetzt und es ist schade, dass ich es Ihnen nicht mehr sagen kann. Ich vermisse Sie, liebe Frau.
Am 13. Oktober berichte ich euch, wie meine vermeintliche Emanzipation und mein Kampfgeist in kürzester Zeit in sich zusammenfallen und ich mich in eine aussichtslose Situation hineinmanövriert habe.
e.kohler@safw.ch
*Kim de L`Horizon; Blutbuch; 3.Auflage, 2022; Dumont
Folge 5
"Unaufgeregt und unterhaltsam" sei meine Kolumne, wird mir von einer namhaften Persönlichkeit auf LinkedIn attestiert. Leider bin ich nicht immer unaufgeregt, ich habe meine wunden punkte. Es wird Zeit, auch einmal darüber zu berichten. Diese Kolumne dürft ihr jetzt gerne aufgeregt lesen und sogar leicht hyperventilieren.
Im Juni wurde der feministische Streiktag organisiert. Eingeladen wurden alle Frauen, alle Männer, die LGBTQIA, die TINFA und FLINTA. Die Kindererzieher*innen, alle Tieflohnbezieher*innen, die Gesundheitsfördernden, die Reinigungsbranche, die Musiker*innen. Also eigentlich alle Menschen, nur die misogynen nicht. Wobei, auch diese wären eingeladen. Leider war es ihnen auf Grund der Bezeichnung des Anlasses nicht möglich teilzunehmen. Zum Frauenstreiktag wären sie gekommen (daran hat Mensch sich ja gewöhnt), aber nicht zu einem feministischen Streiktag. Also blieben sie traurig zu Hause, obwohl ihnen wirklich viel an Frauenförderung liegt.
Ich wollte an diesem Tag nach Bern reisen und habe ihn bereits anfangs Jahr violett in meiner Agenda markiert. In meinem Mikrokosmos ist die Welt in Ordnung, da drängt sich kein Streik auf. Der Chirurg und ich haben uns alle Aufgaben redlich geteilt. Er kocht, kauft ein, macht die Wäsche, erledigt das Administrative, bestellt den Garten, flickt die Fahrräder, kümmert sich ums Auto und arbeitet nebenbei auch noch ausser Haus. Ich esse, ernte und geniesse, arbeite und schreibe Kolumnen. Ich wollte aus Solidarität und wegen meinem Arbeitsumfeld teilnehmen.
Dazu habe ich mindestens vier Gründe: Einmal als Frau und Unterstützerin der Frauen- und Minderheitsanliegen. Zudem aus Solidarität mit all jenen, die weder im Mikro- noch im Makrokosmos als gleichwertig wahrgenommen und entlöhnt werden. Drittens, als Pflegefachfrau- hierzu braucht es keine weiteren Ausführungen- und viertens als Pflegefachfrau und Wundexpertin der Spitex.
Als Spitexmitarbeiter*innen werden wir meiner Meinung nach nicht gleichwertig behandelt. Beispiele gefällig?
Wenn bei einem Anlass mangels anderer Themen die Berufe abgefragt werden: Der Chirurg sagt, er ist Chirurg. Dann flammt das Interesse auf, die Aufmerksamkeit ist ihm gewiss. Wenn sich der Bewunderungsschwall dann erschöpft hat, kommt irgendeinmal höflichkeitshalber die Frage an mich:
«Und du, arbeitest du auch?»
«Ja ich arbeite, ich bin Pflegefachfrau und Wundexpertin.»
«Ah, auch im Spital?»
«Nein, bei der Spitex.»
Der Gesichtsausdruck verändert sich, wird leicht mitleidig bis verständnislos. Die Spitexarbeit löst meist keine Folgefragen aus, schon gar nicht in akademischen Kreisen.
Zweites Beispiel: An einem Kongress wurde am Mittagstisch alles, was Rang und Namen hat, vorgestellt. Zufälligerweise brach die Vorstellungsrunde bei mir ab. Die Spitex punktet nicht, das gibt einfach nichts her.
Drittes Beispiel: Während 11 Jahren habe ich als Wundexpertin auch im Spital gearbeitet. Wenn ich etwas vorschlug, hatte dies grosses Gewicht. Bei den Pflegenden wurden die Verordnungen nie hinterfragt. Wenn ich das gleiche als externe Spitex-Wundexpertin vorschlage, lässt die Pflege es durch die Wundexpertin des Hauses überprüfen. Die ersetzt dann den Schaumstoff durch – einen anderen Schaumstoff und bestellt die Betroffenen nach dem Spitalaustritt in die ambulante Wundsprechstunde. Warum haben Pflegende das Gefühl, wenn sie in einer Institution mit grossem Dach arbeiten, besser zu sein als Pflegende in kleineren Betrieben? Denken sie, dass in grossen Betrieben mehr medizinisches Wissen in ihr Hirn diffundiert? Im Kielwasser der ärztlichen Flotte sollte man nur fahren, wenn dies Eisbrecher sind. Es gibt auch brillante Hausärzt*innen, hervorragende Pflegefachfrauen und-männer in Alters-und Pflegeheimen. Aussergewöhnliche Expert*innen in der Spitex. Geniale selbständige Wundspezialist*innen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern und deren Wundambulatorien, wir brauchen einander! Was ihr nicht wissen könnt, wissen wir. Was ihr in der Klinik nicht könnt, können wir vielleicht zu Hause. Was wir nicht können, könnt ihr. Warum leben wir eine Standorthierarchie innerhalb der Pflege? Ausgerechnet wir, die seit ich denken kann, die Hierarchie kritisieren. Ist das Diskrimination auf Grund des Arbeitsortes? Denkt euch eure Infrastruktur, euren medizinischen Background, eure eingeschüchterte, verantwortungsabgebende Klientel weg. Dann seid ihr mit eurem Rucksack bei den eigenständigen, tonangebenden und selbstbestimmenden Menschen zu Hause und verrichtet die Arbeit, die möglich ist und toleriert wird. Die Arbeit, die ihr alleine verantworten müsst. Bei der ihr gerade niemanden fragen könnt. Patientenzentrierte Pflege? Wo genau ist der Mensch mehr zentriert als in seinem Zuhause? Wären da nicht auch ein paar Punkte zu holen?
Warum ich dann am feministischen Streiktag doch nicht teilgenommen habe, erzähle ich gerne am 13. September. Das ist dann wieder typisch Spitex.
Folge 4
«Wie nein?» frage ich ungläubig, als der Klient mir eröffnet, dass er seinen Tisch nicht freiräumen wird. Er pariert schlagfertig: «Wie kann ein Nein anders als mit einem Nein erklärt werden?» Bauernregel Nummer drei: unterschätze nie den Bauern.
In Windeseile überlege ich mir mögliche "Wyberhaken". Erste Variante: ich bin wütend und mache meinem Ärger lautstark Luft. Soll er selbst zu seinem Bein schauen. Zweite Variante: ich appelliere an sein Mitleid und argumentiere, dass ich ein bisschen Platz brauche, um den Verbandwechsel in Zukunft durchführen zu können. Dritte Variante: ich drohe, wenn ich keinen Platz erhalte, komme ich nicht mehr zu ihm nach Hause. Vierte Variante: ich akzeptiere seinen Willen und arrangiere mich irgendwie, bin beleidigt und unzufrieden und räche mich das nächste Mal mit dem ruppigen Entfernen des Verbands. Fünfte Variante, und für die entscheide ich mich sofort, ich frage ihn: «Was schlagen Sie mir denn vor, damit ich meine Arbeit machen kann und anschliessend keine Rückenschmerzen habe? Was ist ihr Angebot?»
Der Bauer studiert lange (ich fange schon wieder mit dem Zählen an), schliesslich fragt er: «Kann ich auch zu Ihnen in den Stützpunkt kommen?» Er verblüfft mich schon wieder. Bauernregel Nummer vier: nichts anmerken lassen, Pokerface aufsetzen. «Wollen Sie das denn?» frage ich nach, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass er jedes Mal den Weg auf sich nehmen will. «Ja», sagt er, «das ist mir lieber und macht mir nichts aus.» Gar kein übles Angebot denke ich und sehe im Geist meine höhenverstellbare Liege, die Lampe und die ganze Infrastruktur meines Wundzimmers. Wir vereinbaren den nächsten Termin, den er pünktlich einhält, wie auch alle anderen Folgetermine.
Nach angiologischer Intervention, Blutzuckereinstellung, Lifestyleberatung und viel Geduld bei unzähligen Verbandwechseln ist die Wunde ein halbes Jahr später abgeheilt. Wir haben in dieser Zeit hart trainiert, verschiedene Schwünge kombiniert, unsere Kämpfe fair ausgefochten, meist mit einer Prise Humor, dann und wann auch mit Tiefgang. Wir kennen uns nun, wir sind beide keine "Bösen". Zum Abschlusstermin besucht er mich ein letztes Mal im Stützpunkt, und bringt ein grosses Stück Käse mit. Ich nehme die Anerkennung freudig entgegen, bedanke mich herzlich und schaue meinen Schreibtisch an. Auf einem Stapel Blätter, neben Mustern von Wundauflagen, zwischen Bildschirm, Maus und Tastatur, wenn ich Kaffeebecher, Wasserglas und Tablet etwas zur Seite schiebe, exakt an der Seite der Gummiente findet sich ein idealer Platz, um den Käse abzustellen.
Der Abschluss der Wundbehandlung ist für mich immer ein besonderer Moment, viel Freude, aber auch immer ein bisschen Wehmut, weil eine gemeinsame Wundgeschichte zu Ende geht. Der Bauer und ich lassen das letzte Halbjahr Revue passieren, wir sind vertraut miteinander. Wir haben es lustig. So muss es sein. Ich bin guter Laune, der Bauer auch. Für einmal ein Happy End. Ich lockere meinen Stand, entspanne mich und schlage vor, dass ich das Bein in einem Monat nochmals kontrolliere. Und ich biete ihm an bei ihm vorbeizuschauen, wenn ich in seiner Wohngegend bin. Wieder denkt er lange nach, schmunzelt ein wenig und sagt: «Ich komme nochmals zu Ihnen in den Stützpunkt – aber nur, wenn Sie bis dahin Ihren Schreibtisch mindestens zu einem Viertel aufgeräumt haben.»
Mein wunder Punkt ist getroffen, die Zwilchhose heruntergelassen. Im letzten Moment macht der Bauer ein formvollendeter "Brienzer" vorwärts. Ich liege auf dem Rücken im Sägemehl, geschlagen mit den eigenen Schwüngen.
Der Sieg hingegen geht vollumfänglich an ihn, der Kranz, der Muni, die Glocke und die Stabelle dazu.
Wir verabschieden uns mit Handschlag und ich meine zu spüren, dass er mir kurz über den Rücken streicht, um das Sägemehl abzuwischen.
Mir bleibt der Käse vom "Gabentisch".
Bis zum 13. August – falls ich mich bis dahin wieder aus dem Sägemehl aufgerappelt habe?
Folge 3
Alarm im Stützpunkt der Spitex: «Der Mann, hinten im Tal, hat ein ganz übles Bein. Kannst du mal vorbeischauen?». Ich packe Tasche und Koffer – Handdoppler und Monofilament lege ich ganz oben ins Gepäck. Der Diabetes ruft. Wie immer nutze ich die Fahrzeit, um mich zu wappnen – komme was da wolle. Klopfen, eintreten, schon stehe ich mitten in der Küche, mitten in einem mir noch unbekannten Leben. «Grüss Gott, mein Name ist Elisabeth Kohler von der Spitex. Ich bin die Wundexpertin» eröffne ich fröhlich unsere neue Zweckgemeinschaft. Der Mann sitzt auf dem Kanapee hinter dem Küchentisch, schaut vom «Berner Oberländer» auf, mustert mich von Kopf bis Fuss und sagt: «Aha».
Ab jetzt verhalten wir uns wie die Schwinger im Ring zu Beginn des Wettkampfes. Begrüssen, abtasten, Stoff fassen, breitbeinig im Boden verankern, um nur ja nicht den Stand zu verlieren. Wir messen ab und schätzen uns gegenseitig ein. Ich liebe dieses Anfangsritual und weiss, dass jetzt keine Fehler erlaubt sind. Nur keine Hektik - ich zähle innerlich langsam bis dreizehn. Und dann nochmals fünf dazu, schliesslich sind wir im Berner Oberland. «Wollen Sie einen Kaffee?» Ich habe es geahnt - jetzt abzulehnen wäre ein Kapitalfehler. Kurzer Kontrollblick in die Küche – es sieht nicht gut aus. «Gerne» höre ich mich sagen und verwünsche einmal mehr meine Angewohnheit, zuerst zu sprechen und dann zu denken. Es kommt, wie es kommen muss: verkalkter Wasserkocher und Incarom aus der Büchse, der wirklich alten Büchse. Die Tasse ist nicht einwandfrei, der Löffel trüb. Ich schlage mir einen Incaromklumpen ab, immerhin ist das Wasser kochend heiss. «Sind sie wegen meinem Bein hier?» fragt der Bauer. «Ja», erwidere ich. Bauernregel Nummer 1: Je kürzer ich antworte, desto länger spricht mein Gegenüber.
Ich versuche meine Utensilien auszupacken. Dumm nur, dass auf dem Tisch kein freier Quadratzentimeter zu finden ist. Eigentlich nirgends in der Küche. Alles ist belegt, ich behelfe mir mit Stühlen, stelle den Tisch schräg, versuche den Klienten und mich in eine einigermassen bequeme Position zu bringen. Als Arbeitsfläche stehen mir nur mein Koffer- und Taschendeckel zur Verfügung. Meine Kolleginnen haben nicht zu viel versprochen, das Bein sieht wirklich nicht gut aus. Zugegeben, nach dem Waschen schon um einiges besser. Fehlende Fusspulse, schlechter ABI, ausgestanzte Wunde mit lividen Rändern lassen mich nichts Gutes erahnen. Mit dem Monofilament ist die sensorische Neuropathie zudem schnell bestätigt. Ich mache eine Erstversorgung und Dokumentation der Wunde und erkläre dem Mann, dass wir Hilfe brauchen, in der Person der Angiologin, die die Durchblutung kontrollieren muss. Und dass dies kein leichtes Unterfangen wird und wir wohl etwas länger miteinander zu tun haben werden. Ich skizziere ihm das weitere Vorgehen, er hört gut zu, fragt nach und bringt es auf den wunden Punkt: «Wenn kein Blut ins Bein kommt, stirbt es ab».
Wir vereinbaren, dass ich mit dem Hausarzt Kontakt aufnehme und die nötigen Abklärungen in die Wege leite. Wir sind uns so weit einig, es ist erstaunlich leicht gegangen. Ich wähne mich bereits auf der Gewinnerseite, «es glatts Zähni» denke ich...
Meine Siegerlaune verfliegt, als ich ihn um das Freiräumen eines Viertels seines Tisches bitte. Das nächste Mal möchte ich einen Arbeitsplatz – einen Viertel für mich, drei Viertel für ihn finde ich ein faires Angebot. Bauernregel Nummer 2: Arbeitsplatz gleich beim ersten Kontakt erobern und sichern, beim zweiten Besuch wird auf das Gewohnheitsrecht gepocht, beim dritten Mal gibt es keinen Verhandlungsspielraum mehr. Also meine Forderung steht. Der Mann schnäuzt sich umständlich, hustet, kratzt sich im Haar, faltet die Zeitung im Zeitlupentempo zusammen, mustert mich erneut und sagt: «Nein».
«Ein Gestellter» nennt man das beim Schwingen.
Zweiter Gang am 13. Juli?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
e.kohler@safw.ch
Folge 2
BepiColombo ist eine Raumsonde, die unterwegs zum Merkur ist. Sieben Jahre braucht sie, um beim innersten Planeten anzukommen und Erkenntnisse über die Geschichte und Entstehung des Himmelskörpers zu gewinnen. Die Sonde muss während ihrer Reise neun Swingby-Manöver machen, um ihren Kurs neu auszurichten und vor allem um langsamer zu werden. Das heisst, kaum gestartet muss die Sonde bremsen, damit sie ihre angepeilte Umlaufbahn schlussendlich erreicht. Exakt dies musste ich zu Beginn meiner Arbeit als Wundexpertin schmerzlich lernen. Mit dem neuen Diplom in der Tasche, voll - wenn nicht sogar übermotiviert - startete ich meinen Feldzug durchs Berner Oberland. Beim einfachen Bergbauern im Seitental witterte ich den ersten spektakulären Wundfall. Multiple venöse Ulzerationen, infiziert, prekäre hygienische Verhältnisse. Wie gemacht für meine Mission.
Mit dem schwarzen Wandtelefon mit Wählscheibe habe ich den zuständigen Hausarzt alarmiert. Ignorierend, dass der Betroffene weder meine noch ärztliche Hilfe wollte, keine Veränderung und schon gar nicht ins Spital zu bewegen war. Oder zumindest nicht so. In der Meinung, Gutes zu tun, habe ich die Wunden versilbert, ein Antibiotikum organisiert und – wohl das Allerschlimmste – ausgeholt mit meinen ausufernden Belehrungen ab Schulstube. Ohne Punkt und Komma von Hygiene, Infektion und Kompression doziert, ungeachtet der persönlichen Situation des Mannes, ungeachtet seiner Wünsche und Bedürfnissen. Vorbei an seinen Vorstellungen und Werten, vollständig übers Ziel hinausgeschossen und verglüht. Mein Fehlverhalten wurde mir beim zweiten Besuch unmissverständlich gespiegelt: über dem Wandtelefon war eine Kartonkiste genagelt, die Türe zum Zimmer des Klienten von innen abgeschlossen. Kein Durchkommen mehr. Mit Schwung ins Verderben gerast.
Seither sind 15 Jahre vergangen. In unzähligen Missionen habe ich gelernt, Vorbeischwungmanöver einzuplanen, zu bremsen um anzukommen und die Flugrichtung immer wieder neu zu justieren. Geduldig um meine Klienten zu kreisen. Das spart meine Treibstoffreserven, brennt mich nicht aus und ermöglicht ein angenehmes Ankommen. BepiColombo muss die letzten vier Jahre der Reise um die Sonne fliegen, regelmässig zum Merkur zurückkehren um dabei immer langsamer zu werden. Erst dann beginnt ihre eigentliche Aufgabe. Die Reise der Weltraumsonde zeigt, dass der kürzeste und direkteste Weg oft nicht der Beste ist. Ich nehme mir ein Vorbild an diesem Flugobjekt. Nicht, dass mir das jetzt immer gelingt, aber ich bemühe mich, bei meinen Klienten rechtzeitig zu bremsen, um sanft, schmerzarm und rücksichtsvoll auf dem wunden punkt anzukommen.
Lesen wir uns am 13. Juni?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
e.kohler@safw.ch
Folge 1
In der Silvesternacht hatte ich die Idee, eine Kolumne für die SAfW Seite zu schreiben und wollte diesen Vorsatz flugs umsetzen. Wenn ihr jetzt denkt, das sei ein einfaches Unterfangen gewesen – weit gefehlt. Von meinen Vorstandskolleginnen und - Kollegen wurde das erst mal stark hinterfragt. "Wen willst du erreichen? Was ist der Output? Wie wird die Kolumne vermarktet?"
Erreichen möchte ich euch, die ihr wie ich Menschen mit Wunden betreut. Unser Berufsalltag als Wundspezialistinnen und Wundspezialisten ist reich an Erlebnissen, welche es wert sind, festgehalten zu werden. Ich erhebe keinen Anspruch auf hochstehende, evidenzbasierte Inhalte. Ich erhebe nicht einmal Anspruch auf korrekte Kommasetzung. Es soll auch keine fachliche Weiterbildung sein. Vielmehr sollen meine Kolumnen von der Basis für die Basis sein. Sie sollen unterhalten, zum Nachdenken anregen, vielleicht auch mal zum Lachen bringen. Ich schreibe aus der Ich-Perspektive und lasse euch teilhaben an alltäglichen Situationen aus meinem beruflichen Alltag. Ich mag Menschen und deren Geschichten. Ob ich euch dabei bestätige, begeistere oder gar verärgere ist nicht entscheidend. Wichtig ist mir lediglich, dass ich euch ansprechen und berühren kann.
"Vermarktet" muss die Kolumne nicht speziell werden. Ihr entscheidet, ob ihr meine Texte lesen wollt oder nicht. Angebot und Nachfrage wird das regeln.
Der Output? Keine Ahnung. Nicht alles ist meiner Meinung nach messbar, nicht alles ergibt ein Resultat. Muss es auch nicht. Trotzdem und gerade deshalb: ich habe meine erste Lektion bereits gelernt. Sorgfältiges Prüfen einer Idee, deren Zweck, Ziel und Umsetzung. Es hat mich gezwungen, mich vertieft mit meinem Vorhaben auseinander zu setzen. Und wenn mich das nächste Mal eine Wundklientin fragt: «Möchten Sie nicht ein Buch schreiben?», antworte ich überzeugt: «ja, ich will». Oder mindestens einen monatlichen punkt .
Lesen wir uns am 13. Mai?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
Die Autorin

An der Fachhochschule absolvierte sie den Master in Wound Care. Nebenbei arbeitet sie freiberuflich als Fachdozentin an verschiedenen Institutionen und ist Vizepräsidentin der SAfW. In der Eidgenössischen Kommission für Analysen, Mittel und Gegenstände (EAMGK) vertritt sie die Pflege.
Sie lebt im Berner Oberland und versorgt dort Menschen mit Wunden, auch in den abgelegensten Bergtälern. Sie hat sich mit Kopf und Herz dem Thema Wundversorgung verschrieben und liebt die Menschen und ihre Geschichten. Mit ihrem Humor kann sie von ihrem Alltag berichten, manchmal auch mit einer Prise Ironie.
e.kohler@safw.ch