Die Kolumne der SAfW-D
Als Leuchtfigur ist da die Königin, die eigentlich gar keine Königin sein will. Sie ist aber von Natur aus mit königlichen Gaben ausgestattet, so dass sie gar nicht anderes kann als eine Königin zu sein. Sie ist Vorbild, kompetent, fleissig, fair, vernetzt, empathisch, klug, gradlinig, beweglich und zugleich volksnah. Wenn es dem Spiel und dem Volk dient, greift sie entschlossen ein und kämpft an der Front, den Gegenwind nicht scheuend. Sie bewegt sich in alle Richtungen, hilft den Bauern, füttert die Pferde, poliert den Läufern die Bahn und animiert die Türme, sich zu bewegen. Sie schützt den König und achtet stets auf das grosse Ganze. Ihre eigenen Bedürfnisse stellt sie oft zu Gunsten des Spiels zurück. Sie hält immer an, wenn sie auf andere Figuren trifft, weil sie gar nicht anders kann.
Der König ist eigentlich ein Schattenkönig. Er ist immer in der Nähe der Königin, berät sie und kümmert sich um den Hofstaat. Er unterstützt alle Spielfiguren und überwacht den öffentlichen Raum. Oftmals entscheidet er über den nächsten Spielzug. Er zieht sich aber rechtzeitig zurück, wenn ihm Gefahr droht, wohlwissend dass das Spiel sonst aus ist. Er macht eher kleine Schritte, ist aber an seinem Platz präsent und ausserordentlich aktiv. Sein Einfluss ist nicht zu unterschätzen. Er schafft es, eine wichtige Figur zu sein und doch nie allzu sehr in der Öffentlichkeit zu stehen.
Die Läufer, die laufen. Unermüdlich und so weit wie sie wollen und können. Allerdings sind sie etwas handicapiert, weil sie nur schwarz oder weiss sehen. Laufen sie zusammen, ergänzen sie einander gut, laufen sie hingegen auseinander bleibt ihr Spektrum schwarz oder weiss. Grautöne sind nicht so ihres. Die Läufer haben eine immense Grundkondition und werden fast nie müde. Sie laufen zur Königin, zum König und zu allen anderen Figuren und versuchen nach besten Kräften das Spiel buchstäblich am Laufen zu halten. Und sie sind schnell.
Die Pferde sind die einzigen Figuren die über andere Figuren springen können und das tun sie mit Bravour. Meist fehlen sie im Training, aber an den Turnieren glänzen sie mit fehlerfreien Parcours, Eleganz und Geschmeidigkeit. Sie springen in der Regel schnell hinein, leider genauso schnell wieder heraus. Weil sie begehrte Paradepferde sind, fehlt es ihnen oftmals an Zeit. Dass sie während dem Sprung die Richtung wechseln können, ist ein Vorteil. Es macht sie zu genialen Spielhelfern, sie bleiben dadurch aber etwas unberechenbar.
Die Züge der Türme sind besser voraussehbar. Ihre Linien sind klar, ruhig und verlässlich. Vor, zurück, zur Seite, immer nur eine Richtung pro Zug. Sie sind die Stützen, die Pfeiler und daher nicht verzichtbar. Meist stecken sie das Feld ab und wachen über die Seiten. Sie sollten aber nicht unterschätzt werden, auch sie setzen manchmal zum Sprung an – aber nur einmal pro Spiel. Wenn sich König und Turm noch nicht bewegt haben, was eben ein wenig in deren Natur liegt, wird der Turm per Rochade notfallmässig in die Partie gebracht, indem er über den König springt und ihm fortan treu zur Seite steht.
Dann haben wir noch eine Reihe Bauern, welche uns sehr viel abnehmen und das Feld frei machen. Die Bauern sind ungewöhnliche Figuren, weil sie sozusagen en passant viele Hindernisse aus dem Weg räumen können. Und sie können nur vorwärts ziehen, niemals rückwärts, nur schon von daher sind sie mir sympathisch (s. Kolumne 7). Sie können aber auch blockieren und aushalten. Sie bearbeiten Feld für Feld und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Schafft es ein unermüdlicher Bauer bis zum entlegensten Feld, kann er mit einer beliebigen neuen Identität – ausser als König –zurück ins Spiel kommen und helfen. Diese Verwandlungsfähigkeit bedingt ein geschicktes Taktieren auf dem Feld, ist aber durchaus möglich.
Im Schachverein habe ich die letzten zwölf Jahre gelernt, dass gewinnen nur im Figurenverbund möglich ist. Wir müssen den König und die Königin schützen, und wir dürfen keine Figuren verschenken, jede ist wertvoll und kostbar. Um jeden Bauern wird gekämpft. Wir müssen auch fit genug sein, in jede beliebige Figur zu schlüpfen und dort stellvertretend die richtigen Züge zu ziehen. Wir dürfen das Zentrum niemals aus den Augen verlieren und müssen jederzeit die Kontrolle darüber haben. Im Zentrum sind die Ziele, die Strategien und die Erfolge realisierbar. Es lohnt sich, ab und zu innezuhalten und zu überprüfen, ob noch alle in die gleiche Richtung ziehen. Ganz wichtig erscheint mir, dass alle Figuren mitspielen wollen und können. Werden sie an der Grundlinie gelassen, verlieren wir sie. Wir müssen sie entwickeln, damit sie uns dann im Spiel auch zur Verfügung stehen. Ihre Spielfreude will genährt werden. Ab und an ermüden Figuren und sie treten in den Ruhestand. Es obliegt dann den verbleibenden Figuren, die neuen aufzunehmen und ins Spiel zu bringen. Es bedarf viel Übung und Geduld, sind sie aber einmal im Spiel, macht es viel Freude.
Gerade haben wir am vergangenen Schachturnier eine bewährte Figur ziehen lassen müssen und neue gewinnen können. Wir freuen uns über die Neuzuzüger und sind überzeugt, dass sie ihre Figur finden und spielen können. Am Turnier konnten wir zudem zeigen, wie vielfältig das Schachspiel sein kann, wie sorgfältig die Spielzüge geplant waren, die Pferde geglänzt – und die Bauern zuverlässig und hart gearbeitet haben. Am Ende des Tages hatten wir viele zufriedene Zuschauer und haben uns gefreut – nicht an einem Sieg – aber an einer wunderschönen Partie Schach. Die Königin hat es mit Unterstützung des Königs zu einem wahren Volksfest werden lassen.
Ich für meinen Teil träume jetzt von einem Crazyhouse Spiel: ein Team mit zwei Figurensätzen. Wir würden dann weniger ermüden. Wer hat Lust zum Mitspielen? Herzlich willkommen!
Ups, das ist mir jetzt überaus peinlich, aber mir ist gerade eingefallen, dass es sich gar nicht um einen Schachverein handelt – unser Verein kümmert sich eher um die wunden Punkte. Aber soooo weit auseinander ist das jetzt auch wieder nicht.
e.kohler@safw.ch
Seit Jahren folgen wir jeden Donnerstagabend imaginären Linien am Boden. Das heisst der Chirurg folgt ihnen, ich nenne es Tanzkurs. Unterschiedlicher kann man eine gemeinsame Aktivität nicht angehen als der Chirurg und ich das tun. Er lernt die Tanzschritte in Form von geometrischen Mustern, in dem er seine Füsse von A nach B nach C nach D und zurückbewegt. Das gibt dann am Boden eine bestimmte Form. Ich versuche mich von ihm führen zu lassen, übe die Schrittfolge und höre noch etwas auf die Musik. So weit wären wir mit uns im Reinen, wenn ich nicht ab und an auf seine Linien treten würde. Das ist ein absolutes «No-go» und wird sofort damit bestraft, dass er einen Fuss draufsetzt – wo dummerweise schon meiner ist. Seine Linien sind für meine Füsse tabu. Das habe ich bereits in der ersten Tanzstunde verstanden, und unmissverständlich an den eigenen Füssen erfahren. Mein Problem ist, dass ich seine Linien nicht sehe. Ich sehe keine Figur, keine Linien, kein Sternbild, ich sehe rein gar nichts am Boden. So kommt es immer wieder zu Kollisionen, Schuldzuweisungen und veritablen Ehekrisen.
Wenn ich das in meine tägliche Arbeitswelt übertrage, fällt mir auf, dass dies nicht nur in der Tanzstunde zu einem Problem werden kann. Alle Klient:innen haben ihre imaginären Linien gezogen, die ich nicht überschreiten sollte, auch wenn es medizinisch vielleicht indiziert wäre. Und umgekehrt natürlich auch, ich habe auch meine Linien, die ich respektiert haben will und im Notfall verteidige. Es gibt Klient:innen die können ihre Linien glasklar kommunizieren, aber ich glaube, das sind mehrheitlich diejenigen die ins Berner Oberland eingewandert sind. Die hier Aufgewachsenen haben es oft nicht so mit der direkten Kommunikation.
Ein betagter Mann mit einem wunden Punkt über einem knöchernen Vorsprung auf Grund einer Fussdeformität, Diabetes und chronischer venöser Insuffizienz wird uns überwiesen. Die Versorgung gestaltet sich schwierig und langwierig. Ein Hindernis ist, dass der Mann fast nichts mehr hört. Wenn wir die Hörgeräte zufällig finden und er sie freundlicherweise einsetzt, pfeifen sie dermassen, dass ich akut Tinnitus gefährdet bin. Da nützt kein Batteriewechsel, kein Akustiker, kein gar nichts: es ist wie es ist. Somit ist ein Gespräch nicht möglich, ich kann nur gestikulieren und versuchen mich irgendwie verständlich zu machen. Aufschreiben geht auch nicht, mit der Brille ist es nicht besser, als mit den Hörgeräten – die passt schon lange nicht mehr. Wenigstens pfeift sie nicht.
Wir versorgen die Wunde zweimal wöchentlich, entlasten mit Filz, bringen Pelotten an und komprimieren das Bein. Und jedes Mal sagt der Mann am Anfang und am Ende: «Ist die Wunde jetzt abgeheilt? Kann man nun aufhören mit dem Verbinden?». Und jedes Mal schüttle ich den Kopf. «Warum nicht» fragt der Mann, ich hebe die Achseln, deute auf sein Bein, zeige auf den wunden Punkt, auf das Bett, die Ödeme, und schliesslich auf sein Blutzuckerbüchlein und schaue ihn betrübt an. Er brummelt und murrt leise vor sich hin und schüttelt ebenfalls den Kopf. Letzte Woche war ich erneut bei ihm, und beschloss, ihm wenn schon nicht mit Worten möglich, mit pflegerischen Handlungen Gutes zu tun. Ich wusch ihm das Bein, cremte es ein, reinigte die Wunde, legte den neuen Verband an und entlastete die Wunde professionell. Zum Schluss legte ich mein ganzes Können in einen kunstvollen Kompressionsverband und spendierte ihm eine neue dünne Socke aus meinem Fundus, damit er gut in seine Schuhe gleiten konnte. Um meinem guten Willen Nachdruck zu verleihen, schaute ich ihn so freundlich wie nur möglich an und machte ihm verständlich, dass er nun aufstehen durfte. Ich schwelgte einen kurzen Moment in Selbstgefälligkeit und fand, das hätte ich gut gemacht.
In diesem Moment machte er seinem aufgestauten Ärger lautstark Luft. Ich erspare euch seine Tirade an Fluchwörtern – obwohl sie schon sehr urchig, sprachlich lupenrein und treffend waren. Seine Verzweiflung über die nicht, oder nur sehr langsam heilende Wunde, das Ärgernis über den Kompressionsverband, über das Unverständnis, warum eine so kleine Wunde nicht abheilt, hatte sich aufgestaut. Seine Wut über seine Isolation, sein Misstrauen einer Welt gegenüber, die er nicht versteht, und seine Hilflosigkeit liess ihn aus seiner Haut fahren. Ich hätte es kommen sehen sollen.
Mein vermeintliches «Gutes tun», hat ihm nicht gutgetan, hat ihn Woche für Woche mehr verzweifeln lassen. Er kann keinen Kampf mit mir austragen, er versteht mich nicht. Also sagt er auch nichts mehr. Bis es dann eben im Schwall aus ihm herausbrach und mir vor die Füsse kippte. Auf meine Linie. Ich wollte schon ausholen und meinen Anspruch auf Minimalanstand ebenso lautstark kundtun, da realisierte ich seine Verzweiflung. Und dass ich seit Wochen auf seinen Grenzlinien rumgetreten bin. Ich habe seine nonverbalen Signale übersehen.
Wo Worte nicht hinkommen, gelingt es manchmal mit Berührungen. Ich nahm seine Hände zwischen meine Hände und schaute ihn an. Da fing er an zu weinen.
Und ich? Ich war ratlos. Ich weiss bis jetzt nicht, was ich ändern könnte. Fürs Erste nehme ich mir vor, achtsamer auf gezogene Linien zu achten und sie nicht zu überschreiten, sowohl im Beruf als auch im Tanzkurs. Mindestens den Chirurgen müsste das freuen.
Danke für alle Nachrichten von euren Bewegungseinheiten – die Botschaft ist angekommen. Das freut mich. Man kann es aber auch übertreiben…
Einen schönen Morgen nutzte ich für eine frühe Joggingrunde. Ich lief topmotiviert los, zwei Kaffee im Bauch – wie immer. Frühstücken vor dem Sport geht gar nicht. Ich wählte eine Route Richtung Osten. An jeder Verzweigung entschied ich mich für eine Zusatzschlaufe, bis ich irgendwann auf dem Bergweg Richtung Hardergipfel war. Kein Weg erschien mir zu lang, keine Steigung zu steil. Die Sonne und den aufkommenden Durst ignorierte ich gänzlich. Wie so oft beim Laufen, verselbständigten sich meine Gedanken, ich löste alle wunden Punkte auf, die nächsten Kolumnen waren im Kopf bereits geschrieben und das Leben erschien mir uneingeschränkt schön. Da passierte es – kurz vor dem Harderkulm ging nichts mehr. Ein paar lächerliche Höhenmeter wären noch zu überwinden gewesen – aber nein, es war unmöglich. Ich setzte mich an den Wegrand, atmete tief ein und aus. Mir war schwindlig und übel, die Beine zitterten, das Herz raste, und ich hatte Durst. Ich hatte aber nichts dabei – weder Essen noch trinken, nicht mal mein Telefon. Auch kein Geld.
Ich ruhte mich kurz aus und erkannte: hier konnte ich nicht bleiben, es war ein nicht oft begangener Weg und es konnte dauern, bis jemand vorbeikommen würde. Also schleppte ich mich Schritt für Schritt den Hang hinauf, im Tempo einer in ihrer Mobilität reduzierten Schnecke. Meine Muskeln im Streik, das Hirn schickte mir gehässige Botschaften. Selbst schuld – warum hast du nie genug? Wie blöd muss man sein, so weit zu joggen ohne Wasser?Plötzlich hörte ich Stimmen. Fata Morgana oder meine Rettung?
Ich ging näher ran und erkannte, dass da tatsächlich eine deutsche Familie am Picknicken war. «Guten Tag», sagte ich, «schöne Aussicht hier, nicht?». «Ganz großartig», sagte der Mann. Ich: «Ähh, hätten sie wohl etwas zu trinken für mich?». Die Familie schaute leicht befremdet in meine Richtung und zögerte. Schliesslich zückte der Mann eine kleine Flasche Wasser, die ich gierig anlegte und in einem Zug leerte. «Durst?» fragte der Mann, die Frau schaute böse. Die Kinder umklammerten ihre Wasserflaschen. «Ja», sagte ich, «ich bin vom Weg abgekommen. Und wenn wir schon dabei sind – hätten sie auch noch ein Stück Brot für mich?». «Was haben sie denn im Gegenzug zu bieten?» fragte der Mann belustigt. Das trug ihm einen düsteren Blick seiner Frau ein. Und ich hatte – wie schon so oft im Leben – nichts zu bieten, ausser meinem Hunger. Aber ich brauchte das Brot dringend. «Ich erkläre ihnen die Berge» hörte ich mich sagen.«Deal» sagte der Mann und reichte mir ein Stück Brot.
Ich verschlang auch das in null Komma nichts. «Also», sagte der Mann, «ich höre». Nun muss man wissen, dass ich eigentlich nur Eiger, Mönch und Jungfrau kenne, und auch die nur von einer Seite, nämlich genau so, wie ich sie von unserem Wohnzimmerfenster aus sehe. Just in dem Moment, als das erste Kohlenhydrat in Form von Zucker mein Gehirn erreichte, besann ich mich meiner Improvisationsfähigkeiten. Ich zählte also Eiger, Mönch und Jungfrau auf, dann verteilte ich Gross- Breit- Wetter- Schreck-Finsteraar- Hoch- Niedrig-Schmal- Gespalten- Lob-Lauber- Tschingel- und Faulhorn grosszügig in der Gegend herum. Die Familie ist schliesslich aus Deutschland, dachte ich, die werden es ja nicht merken. «Sind sie sich sicher mit den Bergen?» fragte der Mann. «Aber sehr sicher» behauptete ich, ein Blick zu ihm genügte, um gleich anzufügen: «Also ziemlich sicher. Wissen sie, wir in der Schweiz haben flexible Berge, da kann es schon mal vorkommen, dass sie die Plätze tauschen über Nacht», erläuterte ich.
«Sie scheinen mir auch sehr flexibel zu sein», bemerkte der Mann. «Genau» bestätigte ich, «ich bin die personifizierte Schweizerflexibilität, und würde zu einem weiteren Stück Brot nicht nein sagen». «Sie sind frech, nicht flexibel» sagte die Frau. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. «Auf gar keinen Fall, ich bin nicht frech, ich bin hungrig. Das liegt auf einer Charakterskala maximal weit auseinander», erwiderte ich, und schaute auch böse zur Frau.Der Mann erklärte mir in der Folge die ganze Bergkette lückenlos – und ich ahnte, er kennt jeden einzelnen Berg persönlich mit Namen. Ich gab aber nicht auf. «Lustig», sagte ich, «jetzt fällt es mir wieder ein, genau so heissen die Berge. Ihre Auflistung mach Sinn».«Sie sind lustig» sagte der Mann und lachte, «das ist die lustigste Begegnung, die wir bisher in der Schweiz hatten. Und damit sie es auf den Gipfel schaffen – hier noch ein bisschen Schweizerschokolade». «Ich kann eben Berge versetzen» fügte ich an, bedankte mich und machte mich gestärkt auf den Weg.
Ziemlich stolz, mich wacker geschlagen zu haben, bis ich es zu Hause dem Chirurgen erzählte und er sagte, ich sollte mich schämen.
Berge versetzt aktuell auch die SAfW. Ab 2025 finden alle Wundkurse und die Wundexpert:innen Lehrgänge bei Careum Weiterbildung in Aarau statt. Und da jedes Ende zugleich auch ein Anfang ist, hat die SAfW die Gunst der Stunde genutzt, die Angebote zu überarbeiten, zu erneuern und den sich verändernden Bedürfnissen anzupassen. Ihnen wünsche ich einen schönen Restsommer und nehmen sie unbedingt genügend Wasser und Picknick mit, wenn sie in die Berge gehen. Man weiss nie, wann eine hungrig-lustige Frau des Weges kommt.
Und vielleicht sehen wir uns am 26.09.2024 zum Lokaltermin in Zürich? Mit lokalen und internationalen Grössen versammeln wir uns auf den wunden Punkten. Weitere Informationen dazu finden Sie »hier.
e.kohler@safw.ch
«Bewegung ist der Schlüssel zur Wundheilung», doziere ich im vollen Schulzimmer. Wie so oft, erkläre ich den Teilnehmenden des Wundseminars, dass wir durch Bewegung Prophylaxe und Prophylaxe durch Bewegung betreiben. Und auch die Wundheilung ankurbeln, die Durchblutung verbessern, den Kreislauf anregen – und dies nicht selten der Schlüssel zum Erfolg ist und die wunden Punkte abheilen lässt. Die meisten chronischen Wunden sind durch den anhaltenden Bewegungsmangel mit all seinen Folgen entstanden. Bewegung ist ein Muss für unseren gesunden Körper, die Muskeln wollen gebraucht werden, die Knochen belastet. Ich betone, dass die Bewegung in guten, gesunden Zeiten im Leben implementiert werden muss, im Alter und in der Zeit der Krankheit ist es zu spät. Also der Beginn der regelmässigen Bewegung sollte zum Beispiel im jugendlichen Alter meiner Seminarteilnehmenden sein. Oder noch besser bei den Kindern. Bewegung ist auch für die psychische Gesundheit wichtig und nötig. «Regelmässige Teilhabe an sportlicher Aktivität verbessert die Selbstwahrnehmung, Lebensqualität, das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit» (Eime,Young, Harvey, Charity & Payne, 2013). Bewegung hilft auch bei Depressionen… Ich rede mich in Übereifer.
Zeit, eine Ode an die Bewegung zu schreiben, Zeit auch, einmal über meine Freizeit zu berichten, sonst meint ihr am Ende noch, ich sei unablässig am Arbeiten.
Als unser Kind Nummer drei endlich vierjährig war und in die Spielgruppe durfte, hatte ich zum ersten Mal alle meine Kinder gleichzeitig quasi staatlich beaufsichtigt - und neunzig Minuten Zeit für mich ganz allein.
Eigentlich dauerte die Spielgruppe zwei Stunden, aber die Spielgruppenleiterin beorderte uns Mütter (Väter waren zu der Zeit nicht anwesend) eine halbe Stunde vor Abschluss zum Aufräumen an den Ort des Geschehens. Ordnung muss sein, die Spielgruppenleiterin war auch Mutter und deren Kinder wurden ordnungsgemäss um 12.00 aus der Bildungsanstalt entlassen. So musste sie pünktlich zu Hause sein, um auch dort für Ordnung zu sorgen.
Was sollte ich also in diesen neunzig Minuten nur machen? Ich war komplett ratlos. Haushalten kam nicht in Frage, Einkaufen auch nicht, Kaffee trinken auch nicht, nichts auch nicht…guter Rat war teuer.
Ich schaute in die Runde der Mütter, entdeckte eine mir auf Anhieb sympathische Frau, die ebenfalls etwas zögerlich im Raum stand. Als ich sie fragte, was sie jetzt mache, antwortete sie: «Wir könnten miteinander joggen gehen?». Das war die Geburtsstunde unserer bis heute andauernden Joggingfreundschaft. Seit siebenundzwanzig Jahren joggen wir einmal die Woche zehn Kilometer miteinander. Bei jedem Wind und Wetter. Unterbrochen nur durch meine diversen Unfälle, jüngst nun durch ihre Reisen.
Zuerst joggten wir während der Spielgruppenzeit, dann während dem Kindergarten, während der Schule, dann vor der Arbeit, im Frei, nach der Arbeit. Die Strecke passte sich unseren Zeitfenstern an und wurde immer länger. Bis wir unseren ersten Jungfrau Marathon zusammen liefen. Was war das für ein Gefühl, im Ziel einzulaufen mit der Gewissheit: Geschafft. Alle Krisen überwunden, durchgebissen, gekämpft, gezweifelt. Den Körper an seine Grenzen gebracht, dem inneren Schweinehund die Stirn geboten. Und dann: Ein unbeschreibliches Gefühl. Endorphin sei Dank. Dass wir dies zusammen schafften, ist doppelt schön. Hier an dieser Stelle: Grosser Dank an meine Joggingfreundin für Durch – und Aushalten.
Zurück ins Schulzimmer. Bewegung ist das A und O beim venösen Ulcus. Kompression und Bewegung sind siamesische Zwillinge. Bewegung und Entlastung helfen beim Dekubitus. Bewegung hilft bei der diabetischen Wunde, indem sie Blutzucker und Gewicht reguliert, Bewegung fördert die arterielle Durchblutung. Bewegung lässt Wunden gar nicht erst entstehen. Ich erkläre die Vorzüge der regelmässigen Bewegung, propagiere das Lustvolle der Bewegung und beende meinen Vortrag mit dem Satz: «Ein Körper will gebraucht werden. Und der Geist ebenso». «Verstanden?» frage ich die Teilnehmer:innen. Sie nicken. Immerhin, das ist auch bewegen, wenn auch nur den Kopf.
Dann kommt was kommen muss. Wortmeldungen zu den nicht adhärenten Patienten, die sich weigern zu bewegen, die sowieso nie machen, was wir von ihnen möchten oder was wir ihnen empfehlen, die sich nicht mobilisieren lassen… Schon sind wir im Klagelied der Pflegenden. Sozusagen eingesungen im Choral der Unverstandenen. Das muss im Keim erstickt werden.
«Pause, zwanzig Minuten», sage ich und setze mich in Bewegung Richtung Kaffeemaschine. Die Teilnehmenden des Kurses bleiben allesamt sitzen und nehmen ihr Handy hervor…
e.kohler@safw.ch
Wie ich es mit dem Sport auch schon übertrieben habe und mich in eine verzwickte Situation hineinbewegt habe, erzähle ich an dieser Stelle am 13.08. Bleibt dran – an der Bewegung zur Bewegung.
Quelle: Eime, R. M., Young, J. A., Harvey, J. T., Charity, M. J., & Payne, W. R. (2013). A Systematic Review of the Psychological and Social Benefits of Participation in Sport for Children and Adolescents: Informing Development of a Conceptual Model of Health through Sport. International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity, 10, 98.
In der Mittagspause diskutierten wir im Stützpunkt, über Sinn und Unsinn des Medikamentenmanagements. Eine Kollegin entsetzte sich über die vollen Medikamenten-Dosierboxen, die wir wöchentlich nach Verordnung der Ärzt:innen richten. «Nie würde ich so viel Medikamente schlucken, das würde mir komplett ablöschen» sagte sie, mit der Stimme und Überzeugung der Gesunden.
Einige Tage später bin ich bei einem betagten Ehepaar im Einsatz. Während die Frau mit der Diagnose Demenz zur Handlungsunfähigkeit erklärt und der Pflege ihres Ehepartners anvertraut wurde, unterliess man bei ihm jegliche Abklärungen zum selben Thema. Auch wenn sich Hinweise auf seine ebenfalls eingeschränkten Fähigkeiten verdichten – ist er eben kognitiv noch ein bisschen besser als seine Frau. Sozusagen der Blinde unter den Lahmen. Indem über die Defizite des Mannes grosszügig hinweggesehen wird, ist er automatisch befähigt, zu seiner dementen Ehefrau zu schauen und sie zu be-treuen. In guter Treu und Glaube. Oder eben auch zu verun-treuen. Er entscheidet für und über seine Frau. Ob die Frau die adäquate Therapie und Pflege erhält, sei dahingestellt. Ich beobachte oft, wie Ehepartner:innen plötzlich «Macht» über ihre kranken Partner:innen bekommen, ohne ihre pflegerischen Fähigkeiten oder Kognition zu prüfen oder zu hinterfragen. Beispiele gefällig? Als ich eine Kompressionstherapie bei einer dementen Frau anordne, antwortet die fallführende Kollegin: «Das lässt der Ehemann nicht zu». Sie akzeptiert das – wie viele andere Ablehnungen auch – vorbehaltlos. Fragt sich nicht, was ihm das Recht gibt, medizinische Therapien zu beurteilen und abzulehnen? Seine Vorstellungen und Werte seiner Frau einfach überzustülpen, weil sie sich nicht mehr wehren kann. Oder die Ehefrau, die ihrem Ehemann zu wenig zu trinken gibt, um seine Toilettengänge zu minimieren. Keine Seltenheit. Die Ehefrau, die die Abhängigkeit ihres Ehemannes geniesst und auskostet, weil er – als er noch bei Sinnen war – sich nichts vorschreiben liess, sich an keine Regeln hielt und sie oft verletzte. Nur weil Ehepartner:innen zufällig mit den auf Pflege angewiesenen Menschen verheiratet sind, heisst das noch lange nicht, dass sie auch gut und liebevoll pflegen. Vielleicht waren sie schon während den vergangenen Ehejahren nicht liebevoll miteinander.
Auch beim eingangs erwähnten Ehepaar habe ich so meine Zweifel. Weder er noch sie können mir Angaben zur Wundentstehung, der Dauer und der Ursache machen. Sie hat einfach eine Wunde. Am Oberschenkel. Er weiss lediglich, dass seine Frau keine Verbände mehr will, das sei nicht nötig. Zudem koste es zu viel. Er wolle nicht so viel Geld ausgeben. Eine Abklärung verweigert er vehement. Ich solle die Wunde doch einfach offenlassen, das komme dann schon gut. Während der Diskussion fällt mein Blick auf ihr Medikamenten – Dosierbox und ich sehe, dass morgens jeweils noch sieben Tabletten im dafür vorgesehen Abteil sind. Ein Blick in die Medikamentenliste zeigt mir, dass sie jeden Morgen zwölf Tabletten bekommen sollte.
Wer verordnet einer hoch betagten, dementen Frau zwölf Tabletten auf einmal? Ich frage den Mann, ob er seiner Frau die Tabletten nicht verabreicht. «Doch», sagt er, «aber nicht alle – das löscht ihr sonst komplett ab». Da sind wir wieder beim Thema. Vorsichtig frage ich ihn, nach welchen Kriterien er denn die fünf Tabletten, die sie offensichtlich nimmt, auswählt? Und warum gerade fünf? Die Freude über diese Fragen ist ihm ins Gesicht geschrieben. Dankbar, seine medizinische Expertise auch einmal erklären zu können, berichtet er mir: «Wissen sie, meine Frau liebt Farben. Seit ich sie kenne, erfreut sie sich an schönen Farben, an ungewöhnlichen Farbkombinationen, konnte früher wunderschöne Blumensträusse zusammenstellen und kombinierte verschieden farbige Stoffe zu einem Kleid. Also wähle ich alle farbigen Tabletten aus, ordne sie schön auf einem kleinen Tellerchen an, so dass meine Frau Freude hat, wenn sie sie sieht. Und sie schluckt sie dann ohne Widerstand. Gäll Muetter?». Die Frau strahlt und nickt.
Aha, denke ich. Medikamentöse Therapie nach Farben – vielleicht ein guter Ansatz? Medikamentenlehre neu gedacht? Dumm nur, dass sieben von zwölf Medikamenten weiss sind. Vielleicht aber auch ihr Glück?
Ich bin nun in einem Dilemma. Zwölf Tabletten am Morgen zusammen einzunehmen, ist das opportun? Soll ich mich dagegen stark machen und einsetzen für eine Reduktion?
Soll ich dem Ehemann die Farben austreiben und ihn zur Demenzabklärung anmelden? Soll ich der Frau die Freude an der farbigen Therapie zerstören? Soll ich einfach tun, als hätte ich nichts gemerkt?
Ich beschliesse den Hausarzt zu informieren. Ich schlage ihm vor, sich auf die allernötigsten Medikamente zu beschränken – am besten die Farbigen. Er fühlt sich angegriffen und unterstellt mir, mich respektlos in sein Hoheitsgebiet einzumischen. Ups, einen wunden Punkt getroffen?
Ich behalte mir eine weitere Option im Hinterkopf. Ich merke mir schon mal den Hausarzt für eine Demenzabklärung vor, schliesslich ist er bereits weit über das Pensionsalter hinaus…
e.kohler@safw.ch
Seit Covid dürfen wir offiziell in unserem Betrieb beim Verbandwechsel Masken tragen. Was vorher von unserem Betriebsleiter aus Kostengründen abgelehnt wurde, ist nun endlich Realität geworden, ein wunder Punkt ist geheilt. Mein lang gehegter Wunsch, die Maskenpflicht in die Handlungsanweisung «Verbandwechsel bei primär und sekundär heilenden Wunden» aufzunehmen, hat mir die Pandemie ermöglicht. Einerseits aus pragmatischen Gründen, weil wir Masken vorrätig haben müssen und diese wegen der beschränkten Haltbarkeit regelmässig ersetzt werden. Andererseits, weil Covid mir indirekt recht gegeben hat. Während der Maskenpflicht wurden nicht nur weniger Menschen krank, ich beobachtete auch eine deutliche Abnahme der Wundinfektionen. So nutzte ich die Gunst der Stunde und erklärte die Maskenpflicht bei jeder Wundbehandlung. Für mich, die ich praktisch nur Wundbehandlungen mache, heisst das, dass ich immer noch den ganzen Tag maskiert arbeite. Das macht mir nichts aus, ich habe mich daran gewöhnt. Und, wer hätte es gedacht, wahrscheinlich ziehe ich daraus sogar einen Vorteil.
Bei Recherchen bin ich auf eine interessante Studie gestossen. Britische Akademiker haben im Jahr 2022 publiziert, dass Frauen Männer mit medizinischen Masken attraktiver finden als ohne. Sie finden Männer mit medizinischen Masken auch attraktiver als Männer mit Stoffmasken. Und sie finden Männer mit medizinischen Masken auch attraktiver, als wenn die Männer ihre untere Gesichtshälfte mit einem Buch bedecken. Offenbar erhöht das Tragen einer medizinischen Maske die Attraktivität des Gegenübers. Dies gilt auch für Männer, welche maskierte Frauen ebenfalls attraktiver finden – aber das wussten wir ja bereits aus anderen Kulturkreisen. Im Jahr 2016 wurde eine ähnliche Studie in Japan durchgeführt, die Ergebnisse waren entgegengesetzt zur aktuellen Studie: Masken verringern die Attraktivität einer Person. Dass dies sechs Jahre später widerlegt werden kann, erklärt die Autorenschaft folgendermassen: «In einer Zeit, in der wir uns verletzlich fühlen, empfinden wir das Tragen von medizinischen Masken möglicherweise als beruhigend und stehen dem Träger daher positiver gegenüber» (Lewis, 2022).
Was leite ich nun daraus ab? Erstens: Menschen, welche auf einer Dating App aktiv sind, sollten von sich nur ein Bild mit Maske hochladen (nicht vergessen sie beim ersten Date ebenfalls zu tragen und ja nicht auszuziehen). Zweitens: Die Maske hat offensichtlich während der Pandemie die Verknüpfung mit Gefahr verloren und vermittelt heute Fürsorge, Pflege und Sicherheit. Vielleicht sogar Zuwendung. Mit dem kann ich gut leben, sehr gut sogar. Was mich umtreibt, ist die Vorstellung, dass dies vielleicht nur die halbe Wahrheit ist. Ich habe den Verdacht, dass wir unsere Gegenüber und auch uns selbst nicht mehr in der Realität ertragen. Wenn wir nur die eine Gesichtshälfte unseres Gegenübers ertragen, heisst das, dass wir die andere Hälfte schönfärben? Sozusagen ein Photoshopping der Realität? Haben wir verlernt, uns auf das einzulassen, was ist?
Die neuste Version von Microsoft Teams bietet einen Clean-up Button an. Während ich bisher meinen Bürohintergrund weichzeichnen musste, um mein unaufgeräumtes Büchergestell zu verbergen, kann ich nun per Knopfdruck aufräumen und sogar verschönern. KI sei Dank, stehe ich nun als ordnungsliebender Mensch bei allen Videocalls da. Der nächste Schritt wird sein, dass ich bei allen TEAMS- und Zoommeetings eine Maske anziehe – et voilà! Ich werde mich vor Verehrer:innen nicht mehr retten können. Ich werde berühmt, toure durch das deutschsprachige Europa, fülle Konferenzräume mit meinen Lesungen, die Menschen werden vor den Eingängen campieren, um ein Ticket zu ergattern. Eine geheimnisvolle Aura wird mich umgeben und mich meinen Mitmenschen erträglich machen. Einzige Bedingung, ich darf meine Maske nie fallen lassen.
Dass ich nicht ganz ins Fantastische abdrifte, verdanke ich einem Klienten, der weder sich noch seine Sprache schönfärbt, dem jedes Vertuschen seiner Lebenswelt fernab ist. Ein Mensch, der durch und durch geerdet ist, sich sein Leben lang der teilweise harten Realität stellen musste und den Tatsachen ungefiltert ins Auge blickt. Ein Mensch, der nicht die Möglichkeiten hatte zu vertuschen, der sein Leben annahm und immer noch annimmt wie es eben ist. Und auch sein Gegenüber. Als ich meine medizinische Maske nach dem Verbandwechsel ausziehe, schaut er mich lange an und sagt völlig wertfrei: «Ich hätte nicht gedacht, dass sie so viele Falten haben».
Quelle:
Hies Oliver; & Lewis Michael B.; Beyond the beauty of occlusion: medical masks increase facial attractiveness more than other face coverings Published: 10 January 2022 Cognitive Research: Principles and Implications volume 7, Article number: 1 (2022)
e.kohler@safw.ch
Manchmal – nein eigentlich oft – wünsche ich mir eine besondere Gabe. Nicht irgendeine, ich habe sehr konkrete Vorstellungen welche. Es gibt Tage, da möchte ich meine Klient:innen und mich schützen. Vor allem Möglichen, vor sich selbst, vor ihren Krankheiten, vor dem Altern, vor dem Zerfall, vor der Einsamkeit und dem Unvermögen, den Alterungsprozess anzunehmen, ohne zu hadern. Und natürlich vor ihren Wunden und wunden Punkten. Mich möchte ich vor der Hilflosigkeit, der temporären Überforderung, dem Unvermögen, ihnen etwas davon zu ersparen und davor, mir nicht alles so nahe kommen zu lassen, bewahren.
Vor Jahren, als Kind eins und zwei im Teenageralter waren, verbrachten wir Familienferien in Spanien am Meer. Leider fiel die Familienidylle buchstäblich ins Wasser – es regnete ohne Unterlass, sogar in unseren Bungalow. Als nicht mal mehr das Sangria-Besäufnis Ablenkung und Erträglichkeit brachte, griff ich verzweifelt nach einem frei gewordenen Buch. Es handelte sich um eine Vampirgeschichte, die meine Töchter buchstäblich bis(s) zum Abwinken lasen und darum den Regen gar nicht bemerkten. Ich fing irgendwo in der Geschichte an und durchschaute den Plot bald. Eine wunderschöne, tugendhafte, tapfere, mutige, kluge und leidenschaftliche junge Frau verliebt sich unsterblich in einen noch schöneren, tugendhafteren, tapfereren, mutigeren, klügeren und leidenschaftlicheren jungen Vampir. Als sie sich nach gefühlten zweihundert Seiten endlich eingestehen, beidseitig angebissen zu haben, stellt sich der Vollzug der Liebe als denkbar schwierig dar. Trotzdem gelingt`s, die Schwangerschaft und Geburt eines Halbblutes bringen die schöne Frau fast um. Um sie zu retten, und weil es nun mal im Naturell eines Vampirs liegt, muss der werdende Vater seine Geliebte wohl oder übel einmal kräftig beissen. Es gelingt auf Anhieb, sie wird zur Ader gelassen, blutleer und verwandelt sich ebenfalls in eine Vampirin (?). Sozusagen als Entschädigung, wird sie mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Sie kann einen Schutzschild heraufbeschwören und ihn nach ihrem Willen formen und ausdehnen. Ihr Schild schützt vor jeder psychischen Gefahr. Sie kann sich und andere vor zerstörerischen psychischen Kräften schützen.
Und genau diese Gabe möchte ich an manchen Tagen ebenfalls. So zum Beispiel heute. Der erste Besuch des Tages galt einem Mann, der sich mutig gegen sämtliche weitere Therapieversuche, gegen den ihn von innen zerfressenden Krebs entschieden hat. Aber der Krebs zerfrisst ihn nicht nur physisch – wie wohl alle schweren und langandauernden Krankheiten. Er infiltriert auch seine Psyche und die seiner Ehefrau und seiner Kinder. Sie geraten ins Hadern, sie hoffen und wissen eigentlich nicht auf was. Auf Besserung dürfen sie nicht hoffen, auf Verschlechterung und damit Verkürzung wagen sie nicht zu hoffen. Der Krebs zerfrisst ihnen die Zuversicht, die Zeit und den Alltag. Die Frau ist erschöpft, kann es sich nicht eingestehen, auferlegt sich, Tag und Nacht beim Mann zu sein, ohne etwas ausrichten zu können. Dem Mann ist das eigentlich zu viel der Fürsorge, er wagt es aber seiner Frau nicht zu sagen. Es könnte ja der letzte Tag sein. So quälen sie sich durch endlos lange Tage. Versuchen zu erledigen, was längst erledigt ist. Geben sich kleine Aufgaben, um den Tagen eine minimale Struktur aufzuzwingen. Der Krebs lauert in jedem Gedanken, in jeder Tätigkeit, in jedem körperlichen Symptom. Er ist allgegenwärtig, und doch nicht sicht- und greifbar. Nur die eine Hautmetastase zeigt den Zerfall erbarmungslos bei jedem Verbandwechsel auf. Jedes Mal schreit sie in die verängstigten Gesichter: «Ha, ich bin noch da, ich wachse weiter».
Auch beim nächsten Klienten, zerfrisst der Krebs dem Mann das Gesicht und den Geist, entstellt ihn auf grausame Weise. Er lässt ihn in einer Welt leben, die uns keinen Zutritt erlaubt, die die Ehefrau hilflos danebenstehen lässt. Der Krebs und mit ihm sein Geruch infiltriert alles, das Zuhause und auch ihre Gedankenwelt. Umklammert sie und zerstört sie - nach und nach. Sie versucht den Alltag, der schon lange keiner mehr ist, aufrecht zu erhalten. Sie verdrängt ihre Traurigkeit, ihr Mann ist ja noch da. Sie erträgt die zunehmende Isolation, kompensiert im Gespräch mit den Spitexangestellten.
Hätte ich nun die Fähigkeit, meinen Schutzschild heraufzubeschwören und auszudehnen, könnte ich die beiden Ehepaare, wenn nicht vor dem physischen so doch vor dem psychischen Zerfall retten. Ich könnte sie bewahren, vor all den trostlosen, dunklen Stunden, vor den Zweifeln und Hoffnungen, die sich am Ende doch nicht erfüllen. Ich könnte ihre Psyche immun machen, vor allen schlimmen Prophezeiungen der Ärzteschaft, die sich dann doch nicht bewahrheiten. Ich könnte sie vor der Enttäuschung schützen, wenn sie den Therapien nicht bedingungslos folgen, sie abgeschoben und aufgegeben werden – da kann jetzt die Spitex schauen. Keine Nachkontrolltermine. Ausdehnen würde ich meinen Schutzschild auf alle psychisch Kranken, auf die Suchtkranken und die, die bereits in ihrer Kindheit psychisch zerstört, manipuliert, gezwungen und Übergriffen ausgesetzt wurden. Auch die durch Krankheit stigmatisierten Menschen. Und die, die in die Falle des diabetischen Fusssyndroms getappt sind, weil sie nicht aufhören können mit Essen, sich nicht bewegen mögen, sich keine Selbstfürsorge zukommen lassen. Und jetzt zwischen Tür und Angel aufgefordert werden - in einem lapidaren Satz - ihren Lifestyle zu ändern und nicht wissen wie. Und die, die sich entscheiden müssen, ihr Bein amputieren zu lassen oder zu sterben. Oder die, die ihre Wunde nicht heilen lassen, weil sie nicht heilen darf. Weil es ihr letzter Kontakt nach aussen ist. Die, die sich selbst verletzen, damit man sie wahrnimmt.
Mich selbst, würde ich auch darunter stellen, wäre geschützt von allen schweren Schicksalen, könnte helfen und retten und würde mich gut fühlen. Und vielleicht würde ich meine besondere Gabe ausdehnen, die ganze Welt bedecken, alle Völker im Krieg darunter packen, überall eingreifen, wo psychische Gewalt ausgelebt wird. Alle wären sie vereint und von jeglichen bösen Gedanken befreit. Kein psychischer Terror mehr. Ich müsste nur für immer und ewig dastehen. Und meinen Schild hochhalten. Das würde mir nichts ausmachen, es würde mich nicht zermürben, ich würde es nicht hinterfragen, ich würde es einfach machen. Und die dunklen Mächte würden um uns herumjagen, versuchen uns Schaden zuzufügen, sich in unsere Gedanken einzunisten und es würde ihnen nicht gelingen…
Ich weiss, utopisch, fantastisch, unrealistisch. Trotzdem begleitet mich dieses Bild seit Jahren, und manchmal tut es einfach gut, es sich nur vorzustellen und zu denken.
e.kohler@safw.ch
Evidenz beim Duschen: Was ist gesichert?
Autorin: Elisabeth Kohler – von Siebenthal
Institut: Spitex
Schlüsselwörter: Katze, Mann, Zuschrift, Kolumne
Abstract: Es hat funktioniert!
Einleitung: Fast. Vierstellige Klicks habe ich zwar nicht erreicht, aber deutlich mehr Zuschriften. Da das heutige Thema meiner Kolumne der Evidenz gewidmet ist und Evidenz auf Studien basiert und Studien auf Statistiken beruhen, berichte ich von meiner kleinen RCT mit der statistischen Auswertung meiner Zuschriften.
Methode: total blind, zufällig und ohne Kontrolle (RCT).
Resultate: Es gingen 32 Rückmeldungen auf meine letzte Kolumne ein, das ist eine signifikante Erhöhung (100 Prozent) gegenüber den sonstigen Kolumnen. Von diesen 32 Zuschriften (alle haben den Studienendpunkt erreicht), erkundigte sich eine (1!) Person nach dem Gesundheitszustand des Mannes, 31 Personen nach dem Zustand der Katze.
Diskussion: Ich schliesse daraus, dass meine Studienpopulation (n=32) hoch signifikant lieber Katzen als Menschen mag. Weiter folgere ich, dass meine Leserschaft zu 96.875 Prozent aus katzenliebenden Menschen besteht.
Fazit: Ich publiziere meine Kolumne künftig in der «Tierwelt» und bei «VIER PFOTEN» und hole mir dort die Aufmerksamkeit, die mich in die Sphäre der vierstelligen Klicks katapultiert.
Ich gebe zu, dass meine Studie den einen oder anderen Bias aufweist. Ich bin aber bei weitem nicht die Einzige, die etwas eigenwillig interpretiert und manipuliert. Beispiel gefällig?
Von einer Klientin erhielt ich als Anerkennung der geleisteten Dienste ein Duschgel. Dieses Duschgel heisst «Lebensfreude», und ist genau das Richtige für mich – dachte ich mindestens. Und nur zur Klarstellung: es ist ein überaus angenehmes Duschgel.
Beim ersten Gebrauch fiel mir der Aufdruck auf der Tube in grosser Schrift auf: «Hebt die Stimmungslage nachweislich ***». Das wird den Chirurgen freuen, dachte ich und duschte mit grossem Engagement. Auf der Rückseite der Tube fand ich dann auch die Erklärung zu den Sternchen, in sehr kleiner Schrift, kaum leserlich in meinem Alter: «*** Wissenschaftliche Studie des Instituts für angewandte Psychophysiologie GmbH unter der Leitung von Prof. Dr. W. Boucsein; 43 Probanden». Meine Lebensfreude sank blitzartig auf ein Minimum. Noch nass von der Dusche, setzte ich mich an den Computer und schrieb eine Mail an die Herstellerfirma mit der Bitte, mir doch die Studie zuzustellen.
Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: «Bezugnehmend auf Ihre Anfrage zur Aroma-Pflegedusche «Lebensfreude» muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir keine Prüfberichte und/oder Gutachten kosmetischer Studien an Endverbraucher rausgeben (…)». Weiter wurde mir erklärt:
«Ende der 90er wurde das "Objektive Emotionale Assessment (OEA)" an der Bergischen Universität Wuppertal unter Leitung von Prof. Dr. Wolfram Boucsein und Prof. Dr. Ralf Stürmer entwickelt. Unter Einsatz dieser psychophysiologischen Methodik wurden u.a. die Effekte der Dusche "Lebensfreude" auf die Befindlichkeit des Menschen untersucht.
Während des Kontakts mit dem Produkt werden die körperlichen Reaktionen der Teilnehmer gemessen (EEG, EKG, EDA). Zudem wird die subjektive Produktbeurteilung anhand von speziell konzipierten Fragebögen ermittelt. Die Kombination aus der subjektiven Produktevaluation, den objektiven, physiologischen Komponenten sowie der Information über die momentane Stimmung und deren Veränderung während des Duschens ermöglichte eine sehr genaue Einschätzung über die Wirkungsweise der Produkte auf die Teilnehmer». Aha…
Ich beschloss, eine Kontrollgruppe «Alleine» zu bilden und die Probe aufs Exempel zu machen. Jeden Morgen nach dem Duschen fragte ich den Chirurgen lebensfreudig, ob er eine Veränderung an mir bemerke. „Nein“, sagte er am ersten Tag ohne die Tageszeitung aus den Augen zu lassen. So auch an den folgenden Morgen. Als ich ihn dann fragte, ob ich mit ihm ein «Objektives Emotionales Assessment» durchführen dürfe, erkundigte er sich besorgt nach meinem Gemütszustand. Es sei ihm zudem aufgefallen, dass ich in letzter Zeit ein ausgesprochen mühsames Verhalten zeige mit meiner Fragerei. Das war meiner Lebensfreude auch nicht förderlich. Ein weiterer Beweis, dass die Statistik im Einzelfall nicht weiterhilft und die Sache mit der Nachweislichkeit anscheinend doch nicht so einfach ist. Und ich trotz «Lebensfreude» eine mühsame Endverbraucherin bin.
Sehnlichst wartete ich auf die neu überarbeitete S3 Leitlinie «Lokaltherapie chronischer Wunden bei den Risiken CVI, pAVK und Diabetes mellitus» der AWMF (2023), an deren Verfassung 12 Fachgesellschaften beteiligt waren. In der Hoffnung, wenigstens hier auf zitierfähige Evidenz zur Lokaltherapie chronischer Wunden zu stossen. Und um die immer wiederkehrenden Fragen nach:" Was tueni hie druf?" endlich evidenzbasiert beantworten zu können. Weit gefehlt! Aus allen Analysen von 4998 systematischen Übersichtsarbeiten und 38 kontrollierten Interventionsstudien resultieren magere 37 Expertenempfehlungen, lediglich 7 Evidenz-basiert und 30 GCP-Empfehlungen (good clinical practice). Unser lokales Tun in der Wundbehandlung basiert also gerade mal auf dem Evidenzlevel IV nach Empfehlung der Agency for Healthcare Research and Quality (Stürmer EK et al; 2022). Immerhin haben sie im internationalen Kontext eine grosse Übereinstimmung, was sie zu guten Quellen macht. Zu Expertenwissen eben, aber nicht zu Evidenz. Und doch ist die erste und leider jeweils auch die letzte Frage eines Weiterbildungslehrgangs zu Wundexpert:innen immer die Frage nach den passenden Wundauflagen. Es ist eine hartnäckige Verweigerung der Wundwelt, zu glauben, dass sich Wunden nicht ausschliesslich mit Wundauflagen heilen lassen. Es ist ein Nichtwahrhabenwollen, dass die passende Auflage nur für die richtige Feuchtigkeit sorgt und im besten Fall die Autolyse fördert. Aber nie die alles Entscheidende Therapie ist. Immer noch schreibt das Wundexpert:innenpublikum nur dann eifrig mit, wenn es einfachste Produkteempfehlungen à la Betty Bossi erhält. So wie sie uns die Industrie und von sich selbst überzeugte Wundtherapeut:innen geben. Mein wunder Punkt. Sie schreiben fast nie mit, wenn es darum geht, die wirklich evidenzbasierten Themen wie Kausaltherapien, Wundreinigung oder therapeutische Beziehungen zu berücksichtigen.
Meine Duschtube ist leer – ich bin eine wirkliche Endverbraucherin. Und meine jahrelangen Bemühungen, den Wundauflagen endlich die ihnen zustehende Bedeutung zu geben, sie nicht zu überschätzen und zu missbrauchen – lassen mich am Ende wohl endverbraucht zurück.
Quellen: Stürmer, E.K; Dissemond, J; Evidenz in der lokalen Therapie chronischer Wunden: Was ist gesichert? Akt Dermatol 2021; 47: 314– 322. doi: 10.1055/a-1469-7828
e.kohler@safw.ch
Folge 11
Meine Kolumne generiert im Schnitt eine niedrige dreistellige Zahl an Klicks. Das freut mich und ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich bei denen, die die Kolumne lesen. Danke für die wohlwollenden Kommentare, Bestätigungen und klugen Gedanken – aber auch für die Kritik. (An dieser Stelle wünsche ich dem Bundesangestellten, der ebenfalls ohne Bonus ins neue Jahr gestartet ist, viel Kraft und Durchhaltevermögen. Eventuell lässt sich bei den Spesenabrechnungen etwas kompensieren?)
Wenn meine Kollegin ein launiges Katzenvideo postet, dann generiert sie auf Anhieb vierstellige Klicks. Das ist verblüffend und für mich schwer zu verstehen. Da es aber funktioniert, versuche ich es nun auch mit einer Katzengeschichte, die sich vor ein paar Jahren zugetragen hat.
Wir betreuten einen jüngeren Mann, der an einer schweren Epilepsie litt. Diese Krankheit hat ihm ein normales "Sozial-Leben" zunehmend verunmöglicht und ihn zudem in verschiedene Abhängigkeiten getrieben. Mehr und mehr glitt er an den Abgrund seiner menschenwürdigen Existenz, vereinsamte und konnte die Selbstfürsorge nicht mehr wahrnehmen. Nach unzähligen therapeutischen Versuchen in ambulanten und stationären Einrichtungen, kam der behandelnde Psychiater auf die Idee, die Spitex könnte involviert werden, um mit «mütterlicher Fürsorge» zu retten, was zu retten sei. Das Medikamentenmanagement überwachen, die verschiedenen Blessuren, die er sich bei seinen epileptischen Anfällen jeweils zuzog, "verwundpflegen", für Tagesstruktur sorgen und wenn wir schon dabei seien, ein Auge auf seinen Alkohol- und Medikamentenkonsum werfen. Ich schätze solche präzisen, einfach umzusetzenden Verordnungen sehr, nahm den Auftrag wörtlich und beobachtete die sich ansammelnden leeren Flaschen und Blister intensiv. Unzählige Augen habe ich draufgeworfen.
Da immer wieder Wunden auftraten, kam ich auffallend oft in den Genuss dieser Einsätze. Ich mochte den Mann gut, und als wir ein für alle Male geklärt hatten, dass er die pornographischen Filme während dem Besuch der Spitex abstellt, funktionierte es ganz ordentlich. Ab und an blitzten seine Intelligenz und sein Humor durch, und es liess sich erahnen, dass er eine sehr feinfühlige, sensible Persönlichkeit war, wenn die Suchtmittel diese Eigenschaften nicht überdeckten und ihm sein Leben erträglich machten. Obwohl ich nur die sichtbaren wunden Punkte beeinflussen und versorgen konnte und bei allen anderen Aufträgen grandios versagte, schätzte er die Besuche. Mir wäre es ebenso ergangen, wenn die Katze nicht gewesen wäre. Er hatte einen überaus fetten, alten Kater – sein Ein und Alles. Ich bin nicht bekannt für meine ausserordentliche Tierliebe – aber gegen diesen Kater entwickelte ich eine regelrechte Aversion. Es fing schon beim Eintritt in die Wohnung an, er strich mir unablässig um die Beine, mauzte nervtötend herum, sprang subito auf meine saubere Arbeitsfläche, strich mit dem Schwanz um die Wunden und behinderte meine Arbeit nicht nur vom hygienischen Standpunkt her. Meine Versuche, ihn im Schlafzimmer einzusperren scheiterten, er weigerte sich den Raum zu verlassen und wurde von seinem Besitzer natürlich in Schutz genommen. Für sein mühsames Benehmen bekam er zu meinem Ärger auch noch Rindsfiletstücke, welche die Ergänzungsleistung finanzierte. Dies ärgerte mich zusätzlich, ich hielt seinem Besitzer vor, dass er besser das Geld in seine Nahrung investieren würde und den Kater artgerecht, sprich billiger füttern sollte. Mein Klient teilte mir mit, dass mich das rein gar nichts angehe. Der Kater und ich lebten in der Folge einen stillen, kalten Krieg, seine Abneigung mir gegenüber, war der meinen ihm gegenüber mindestens ebenbürtig.
Der Zufall wollte es, dass ich in der gleichen Strasse andere Einsätze zu leisten hatte. Bei der Rückkehr traf ich eines Tages den Kater neben meinem Auto an. Selbsterklärend, dass sich meine Freude in Grenzen hielt und ich ihn vollständig ignorierte. Aber ich hatte die Rechnung ohne ihn gemacht. Kaum war die Autotür einen Spalt weit geöffnet, sprang der Kater auf den Fahrersitz und miaute aus vollen Kräften. Ich packte das Tier und beförderte es laut keifend aus meinem Auto. Bevor ich einsteigen konnte, sass der Kater schon wieder auf meinem Sitz. Wir wiederholten ein paar Mal dieses unselige Spiel, bis ich realisierte, dass ich ewig Zweite machen würde. Also trug ich ihn – unter grossem Protest seinerseits – etwas weiter weg von meinem Auto, verscheuchte ihn mit allerlei wilden Gesten und wüsten Worten. Vergeblich – er war immer schneller wieder bei meinem Auto und es gelang mir einfach nicht, vor ihm einzusteigen. Er nutzte den kleinsten Spalt, um an mir vorbei ins Auto zu flitzen. Ich probierte es mit falscher Freundlichkeit und Hinterlist – auch kein Erfolg. Also packte ich das Tier und marschierte zu seinem Zuhause – je näher ich der Wohnung seines Besitzers kam, desto ruhiger wurde er. Ich stieg die Treppe hoch, klingelte und trat ein. Im Eingang lag mein Klient, bewusstlos auf dem Boden, stark blutend aus einer Kopfwunde. Die Zeichen deuteten auf einen schweren epileptischen Anfall hin. Ich lagerte den Klienten auf die Seite und alarmierte die Ambulanz. Während der Wartezeit versorgte ich die Wunde notdürftig, überwachte die Vitalzeichen, während der Kater still und reglos neben mir sass, ohne mich nur einmal zu behindern. Als der Klient vom Krankenwagen abgeholt war, reinigte ich das Nötigste und verliess die Wohnung, um eine Nachbarin zu informieren und ihr das Füttern der Katze zu überlassen. Ich schloss die Türe, keine Regung des Katers. Und genau diese Stille liess mich umkehren und meine Abneigung vergessen. Ich kauerte mich zu ihm, strich ihm durchs Fell und lobte ihn für seinen Einsatz. Gut gemacht, Kater. Im Kühlschrank fand ich ein angeschnittenes Filet, zerkleinerte es in Stücke und legte es in den Futternapf. Frisches Wasser bekam er auch. Der Kater hatte keinen Appetit und ich bin mir sicher, ich habe noch nie in traurigere Katzenaugen geblickt.
Moral der Geschicht`: alles für die Katz` ist niemals alles für die Katz`.
«Ho ho – fröhliche Weihnachten» posaune ich im Stützpunkt der Spitex beim Erblicken des goldenen Kuverts. Ich freue mich bereits auf den Inhalt – eine Extraanerkennung und Wertschätzung. Eine Kollegin, die neben mir am Computer sitzt, schaut auf und meint griesgrämig: «Freu` dich nicht zu früh». Ich lasse mir die gute Laune nicht verderben und belehre sie, dass Boni nun mal nicht fix erwartet werden dürfen. Dass es kein Recht darauf gibt und es auch schmalere Zeiten im Betrieb durchzustehen gilt. Und dass wir uns angesichts der Weltlage auch mal etwas Bescheidenheit auferlegen sollten. Darauf schaut sie noch säuerlicher als zuvor. Ich finde, das habe ich jetzt schön gesagt.
Am gleichen Morgen habe ich der Zeitung entnommen, dass im Jahr 2022 die höchsten Leistungsprämien im Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) von Albert Rösti und im Finanzdepartement (EFD) von Karin Keller-Sutter ausgeschüttet wurden. Leistungsprämien sind Lohnzulagen, mit denen laut der Bundespersonalverordnung «überdurchschnittliche Leistungen und besondere Einsätze» honoriert werden. Im UVEK erhielten 31.1% der Mitarbeitenden einen Bonus, im EFD 28.9%. Die durchschnittliche Prämie im Finanzdepartement war CHF 2`456.- im UVEK CHF 2`216.- (Quelle: Eidgenössisches Personalamt). Insgesamt gewährten alle sieben Departemente und die Bundeskanzlei im Jahr 2022 20.4 Millionen Prämien.
Bei guter Beurteilung gibt es dort auch noch eine Gehaltserhöhung zwischen 1.5 bis 4 %, plus 1% Teuerung für alle Mitarbeitenden. Der durchschnittliche Bruttolohn beim Bund wird im Jahr 2024 also erstmals bei über CHF 10`000.- im Monat liegen. Nicht eingerechnet sind da Spontanprämien, Treueprämien, Sonderzulagen, Funktionszulagen sowie Arbeitsmarktzulagen. Die Arbeitsmarktzulage dient dazu, Personen, die auf dem Arbeitsmarkt stark umworben sind, mit einer finanziellen Zusatzleistung zu gewinnen oder zu erhalten.
Auf kantonaler Ebene schaut es ebenfalls nicht viel anders – wenn auch etwas bescheidener - aus. Im Kanton Bern profitierten vor allem die Mitarbeitenden der bürgerlich geführten Finanz- und Sicherheitsdirektionen. Jede zweite Person bei der kantonalen Finanzdirektion erhielt eine Prämie für «ausserordentliche Leistungen» im Durchschnitt von CHF 526.- (Quelle: Personalamt des Kantons Bern). Ich werte das als überaus positives Zeichen, wer die Geldtöpfe verwaltet, scheint äusserst grosszügig zu sein. Auch im Kanton Bern.
Immer noch gut gelaunt öffne ich den goldenen Umschlag und lese, dass unsere «überdurchschnittlichen Leistungen und die besonderen Einsätze» verdankt und geschätzt werden. Und nun, im goldenen Kuvert ein goldener Karton, darin eine Geschenkkarte eines lokalen Grossisten über einen tiefen, sehr tiefen, zweistelligen Betrag. Und ein mit dem Spitexlogo versehener Kugelschreiber mit goldener Klammer. Aha… so bescheiden meinte ich bei meiner eingangs erwähnter Belehrung an meine Kollegin nun doch wieder nicht. Auch nicht sooo schmal.
Natürlich rufe ich sofort den Betriebsleiter an, um mich zu bedanken. Auch er tönt etwas säuerlich, als er mir erklärt, dass mehr einfach nicht drin liege. Wir seien in den roten Zahlen, das System sei ausgepresst, wir könnten nur noch produktiver werden. Ich verzichte spontan darauf zu fragen, wie er sich die Steigerung der Produktivität vorstellt. Ich kann es mir ohnehin vorstellen. Die Tarife, die Abgeltungen und unsere geografische Lage mit den vielen Wegzeiten sind misslich – aus die Maus.
«Die Finanzierung durch die öffentliche Hand basiert auf Leistungsverträgen mit dem Kanton oder der Gemeinde. Die gesetzlichen Auflagen verpflichten die Spitex-Organisationen zum sorgfältigen Umgang mit den finanziellen Mitteln», steht auf der Homepage spitex.ch. Fakt ist, wir stehen schlecht da. Nichts da mit Boni und schon gar nicht mit Arbeitsmarktzulagen. Dabei: wer, wenn nicht wir im Gesundheitswesen tätige Menschen sind auf dem Arbeitsmarkt stark umworben! Wer, wenn nicht wir, wurden während der letzten Pandemie beklatscht und gelobt und wem wurden ausserordentliche Leistungen attestiert? Wem, wenn nicht uns, wurden attraktivere Arbeitszeiten, mehr Personal und weniger Stress versprochen? Wer, wenn nicht die Finanzdepartemente prägen die Kostenverteilung? Täusche ich mich, oder sind es die Bürgerlichen, die oftmals in der Unterstützung der Gesundheitsberufe den Finanzhahn zudrehen oder mindestens drastisch drosseln wollen? «Überdurchschnittlich und besonders» ist nicht überall gleich «überdurchschnittlich und besonders».
Ob da die jüngst verabschiedete Gesundheitsreform «einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen Efas» Abhilfe schafft? Werden die Karten dadurch neu gemischt? Sicher ein erster Schritt in die richtige Richtung aber noch weit vom Ziel entfernt. Die Efas könnte ab 2028 günstigere ambulante Behandlungen fördern und gleich lange Spiesse für Alle schaffen. Aber ich bin nicht allzu optimistisch, dass die Spitexorganisationen davon erheblich profitieren werden. Wir sind non Profit und bleiben wohl non Profit. Ob der Kanton Bern sich zu einer versorgungspolitischen anstelle von einer finanzpolitisch gesteuerten Restfinanzierung bewegen lässt? Gespart wird im Gesundheitswesen bekanntlich nie. Paradoxerweise steigen die Gesundheitskosten umso mehr an, je besser es uns geht.
Wir bleiben also der Freude wegen bei der Spitex, oder wechseln zum Bund oder Kanton, oder noch besser in die nationale Politik. Ein/e durchschnittliche/r Nationalrät*in schafft es mit allen Zulagen auf CHF 130`000.- Jahressalär, im Ständerat noch etwas mehr. Ohne Nebenmandate. Oder noch lukrativer: ich werde Präsidentin eines Krankenkassenverbandes, das soll jährlich CHF 180`000.- einbringen. Das nötige Rüstzeug habe ich schon: einen Kugelschreiber mit goldener Klammer.
Uns bleiben Ruhm und Ehre – und mit den besten Wünschen für ein gutes, gesundes, produktiveres, bescheidenes, erwartungsarmes neues Jahr. Der angekündigte Informationsanlass unserer Spitex lässt nichts Gutes erahnen. Da hilft auch der im Anschluss in Aussicht gestellte Apéro nicht. Flucht in die Grösse bis zum too big to fail? Fusion mit dem Niesen, Stockhorn, Wetterhorn oder sonstigen Grössen unserer Region?
Im Februar dann eine Geschichte für die Katz`… das soll viele Klicks generieren!
e.kohler@safw.ch
Eigentlich wollte ich das Jahr mit einer kleinen, lustigen und feierlichen Geschichte abschliessen. Daraus wird nichts. Im November musste ich für immer von meinem Vater Abschied nehmen. Obwohl sich das abgezeichnet und er ein hohes Alter erreicht hat, auch bereit war zu sterben, hat es mich aus der Bahn geworfen. Und noch nicht wieder hinein.
Seit ich mich erinnern kann, war mein Vater da. Wann immer ich das Bedürfnis hatte nach einem Gespräch, war er da. Er war da, um meinen Kummer zu hören, er war da, um meine Fragen zu beantworten, zu raten wo ich Rat wollte, Anteil zu nehmen, sich mit mir zu freuen aber auch um mich zu ärgern. Letzteres nicht zu knapp. Aber vor allem und hauptsächlich: er war da, um mit mir zu lachen. Wir teilten den gleichen Humor. Mit keinem anderen Menschen konnte ich so lachen wie mit ihm. Das fehlt mir nun sehr. Oft rief er an und begann das Gespräch mit den Worten: «Du, los emal was mier passiert isch…».
Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm einmal eine Kolumne widmen und eine seiner Geschichten erzählen werde. Er las meine Kolumne mit Interesse und Freude, auch wenn er da und dort einen Kommafehler entdeckte und den Verlust des Genitivs beklagte. Dabei war er der grosse Schreiber in der Familie, niemand konnte so schöne Briefe schreiben wie er – sowohl vom Inhalt als auch von der Schrift. Weihnachten ohne seinen Weihnachtsbrief kann ich mir noch gar nicht vorstellen.
Seine Geschichte begann mit einem Geschenk seiner damaligen Lebensabschnittspartnerin. Sie schenkte ihm ein kleines Radio, das er in der Folge in der Küche stehen hatte und jeden Morgen und Mittag die Nachrichten hörte. Bis zu dem Tag, als das Radio plötzlich verstummte. Er nahm die Lupenbrille hervor, zerlegte das Radio in seine Einzelteile, reinigte alles und setzte es wieder zusammen. Ohne Erfolg. Also packte er sein Radio in den Rucksack und reiste mit dem Postauto in die Migros. Beim Kundendienst brachte er sein Anliegen vor, die Frage nach Quittung und Garantieschein musste er natürlich verneinen, war es doch schon neun Jahre her, dass er das Radio erhalten hatte. Nichtsdestotrotz beharrte er auf der Reparatur seines Gerätes. Die Frau beim Kundenempfang versprach ihr Bestes und versicherte, das Gerät einzuschicken. Bald bekam er Bescheid, das Radio könne nicht mehr geflickt werden. Ob er es abholen oder entsorgen lassen wolle? Da kannte die Migros meinen Vater noch nicht und konnte seine Hartnäckigkeit auch nicht ansatzweise erahnen.
Er reiste subito erneut zur Migrosfiliale im Dorf und erklärte der Dame beim Kundendienst, dass dies gar nicht gehe, ein praktisch neues Radio nicht mehr zu flicken. Schon nur aus Nachhaltigkeits- und Umweltschutzgründen müsse er sich vehement dagegen verwehren, ein Radio nach nur neun Jahren bereits zu entsorgen. Er beobachte mit Bedenken die zunehmende Wegwerfgesellschaft und wo er sich darüber beschweren könne. Mit der Adresse und dem Radio im Gepäck fuhr er nach Hause, setzte sich an seine Hermesschreibmaschine und schrieb den sehr geehrten Damen und Herren der Migros. Er schilderte sein Befremden einerseits über die mangelnde Qualität, andererseits über die Umweltbelastung und die Wegwerfmentalität. Über zwei Seiten ergoss sich seine Enttäuschung, sowohl über die Migros als Ganzes als auch über die Schnelllebigkeit und Unachtsamkeit unserer Zeit.
Bald schon erhielt er ein Telefon der lokalen Migrosfiliale, am Apparat erneut seine mittlerweile vertraute, leicht verkrampfte Dame vom Kundendienst. Das Radio sei leider definitiv nicht zu reparieren, aber um seine Enttäuschung zu mildern, dürfe er Migrosgutscheine im Wert von CHF 80.- beim Kundendienst abholen. Als Beitrag an ein neues Radio. Das erledigte er flugs, setzte sich aber wieder an die Hermes und schrieb, diesmal an die sehr geehrten Damen und Herren der Direktion der Migros. Er bedanke sich für die Gutscheine und anerkenne den guten Willen, die Frage der Nachhaltigkeit sei aber keineswegs geklärt und er sei enttäuscht, dass darauf nicht eingegangen werde. Er müsse in dieser Angelegenheit auf einer schriftlichen Antwort bestehen. Ein paar Wochen verstrichen, da erhielt er Post von der Direktionsabteilung mit der Erklärung, dass die Radios von einer externen Firma in Deutschland hergestellt würden und die Migros als solches nur bedingt Einfluss auf deren Qualität habe. Seine Enttäuschung aber sehr wohl verstehend, möchten sie ihm als Entschädigung – auch für seinen Aufwand – den Kaufpreis des Gerätes in Form von Migrosgutscheinen im Wert von CHF 180.- zurückerstatten, sie seien beiliegend. Nun war er definitiv in der Klemme. Hatte er doch bereits CHF 80.- erhalten. Das Total überstieg nun den Kaufpreis des Radios deutlich. So machte er sich erneut auf den Weg zur Migros zum Kundendienst und legte der nur noch mühsam beherrschten Bekanntschaft dar, dass er nun zu viel erhalten habe. Die Frau beim Kundendienst empfahl, die Gutscheine zu behalten, sie könne diese nicht ohne erheblichen buchhalterischen Aufwand zurücknehmen. Er solle sich doch einfach darüber freuen und sich etwas Schönes kaufen. Leider brauchte mein Vater aber gerade nichts Schönes, und setzte sich erneut an den Schreibtisch. Er bedankte sich bei der Migros Direktion, legte dar, dass er nun zu viel erhalten habe, dies in der lokalen Filiale aber nicht zurückgeben könne. Ob er denn die Gutscheine von CHF 80.- eventuell an die Direktion retournieren könne? Und er melde jetzt ein letztes Mal, dass die Frage der Nachhaltigkeit noch nicht geklärt sei und ob er das Radio an die besagte Firma nach Deutschland zur finalen Begutachtung schicken könne. Die Antwort liess diesmal auf sich warten, doch sie traf ein. Die Gutscheine könnten nicht zurückgegeben werden und überhaupt es sei jetzt gut so, er dürfe sie behalten. Eine Kopie seines Briefes hätten sie an die Herstellerfirma weitergeleitet, mehr könnten sie nun wirklich nicht tun und es wäre ihnen sehr recht, das Geschäft nun abschliessen zu können. Mein Vater bedankte sich nochmals für die Entschädigungen, formulierte erneut seine Enttäuschung über die Welt, die Radios herstellt die nur neun Jahre funktionieren und fügte sich murrend seinem harten Schicksal.
Einen Monat später erhielt ich dann ein Telefon von meinem Vater: «Du, los emal was mier passiert isch», und schon brach er in einen Lachanfall aus. Es ging dann sehr lange, bis er fähig war zu berichten, dass er an diesem Morgen ein Paket aus Deutschland erhalten hatte. Inhalt – ihr ahnt es – einen funkelnagelneuen Radio! Dem beigelegten Schreiben des Herstellers war die Hoffnung zu entnehmen, dass das Radio nun etwas länger halte und er zufrieden sei mit dem neuen Produkt. Und der nachdrückliche Wunsch, dass nun die Angelegenheit erledigt sei. Mit freundlichen Grüssen.
«Gsehsch», sagte mein Vater, «würf doch nid ging allz furt».
Selbstredend, dass er der Firma und der Migros einen langen Brief schrieb, sich bedankte und das Thema Nachhaltigkeit nochmals aufs Tapet brachte….
Ich habe das alte, defekte Radio beim Aufräumen jetzt entsorgt (seine zwei Vorgänger übrigens auch) – mich einerseits lachend an die Geschichte erinnert, andererseits weinend über das Endgültige. Wahrscheinlich war er der letzte Mensch auf der Welt, der fünf lange Briefe auf der Schreibmaschine verfasste, um für das Überleben seines Radios zu kämpfen. Ich vermisse ihn…
PS: Falls ihr euch nun fragt, was diese Kolumne mit der Wundbehandlung zu tun hat, kann ich euch die Antwort jetzt schon geben: nichts. Aber sehr viel mit meinem wunden Punkt!
Frohe Festtage und bis zum 13. Januar?
e.kohler@safw.ch
Folge 8
Bevor ich meine ausweglose Situation weiter schildere, möchte ich mich für die vielen Zuschriften bedanken. In erster Linie bei dem Mann, der mir angeboten hat, mich bei topographisch herausfordernden Fahrten zu chauffieren. Sozusagen als Rotkreuzfahrer für Spitexangestellte. Ebenso bedanke ich mich für das Jobangebot eines Wundambulatoriums. Bei Besichtigung des dazugehörigen Parkplatzes musste ich leider feststellen, dass die Parkfelder sehr schmal sind.
Eine Leserin schreibt, dass sie bei engen Strassenverhältnissen bei Gegenverkehr jeweils sofort ausgestiegen sei und den Autoschlüssel gleich dem Gegenüber mit der Bitte überreichte, ihren Wagen zurückzusetzen. Fast immer hätten es die Fahrer dann bevorzugt, im eigenen Auto rückwärtszufahren. Gute Strategie, danke dafür. Das werde ich gerne ausprobieren. Vielen Dank an Alle, die mir ehrlich geschrieben haben, dass auch sie nicht gut rückwärtsfahren können. Ich fühle mich gleich weniger als Autoversagerin. Eine Leserin ist entschieden der Meinung, dass Rücksicht etwas Gutes ist, und setzt sich vehement dafür ein. Nicht alles Rückwärtige sei schlecht, moniert sie (hier erlaube ich mir die Bemerkung, wenn man sich dem Rückwärtigen zuwendet, man sich sozusagen wieder in der Vorsicht befindet). Dazu mehr am Ende dieser Kolumne. Aber «zu-rück» zu meiner Geschichte, ihr erinnert euch...
Ein zweiter Fahrer kommt von hinten an den Ort des Geschehens, steigt aus und grüsst freundlich… Mein Kontrahent fühlt sich gleich eingeladen, seinen Unmut auf der Stelle kundzutun und weiht den Kollegen sofort in unsere verkeilte Situation ein. Mit allerlei Superlativen weiss er meine Fahrschwäche blumig auszuschmücken.
Der Mann von hinten – ich nenne ihn hier Chrigu - hört aufmerksam zu, unterbricht nicht, schaut dem Entrüsteten direkt in die Augen und hält still, bis sich der Redeschwall endlich erschöpft. Dann dreht er sich vollständig zu mir um und fragt mit einer Ruhe, die meines Wissens nur im Berner Oberland möglich ist: «Ude – Frou Chohler, wi geits?»
Ungläubig öffne ich meine Augen, schaue den Mann an und weiss blitzartig, er wird mich retten. Nach nur dieser einen Frage fasse ich volles Vertrauen zu ihm. Und ich frage mich, welche Ausbildung in Kommunikationspsychologie und Rhetorik er wohl besucht hat. Zuerst dieses aktive Zuhören, dann das vorbehaltlose Zuwenden – auch physisch. Wertfrei, interessiert, ohne Vorurteil, einfach so: «Ude, Frou Chohler wi geits?» mit echtem, ergebnisoffenem Interesse. Es ist so wohltuend. Ich nehme mir vor, meinen Klient*innen genau so zu begegnen. Ausblenden, was ich an Vorverurteilungen im Stützpunkt gehört habe, zuerst ohne Einschränkung zuhören, dann zuwenden – dann handeln. Ich bekomme fast ein bisschen Freude an meiner Situation und merke, hier erteilt mir einer gerade eine wichtige Lektion.
Meine Stimme tönt schon wieder etwas zuversichtlicher als ich antworte: «Äh, ich habe mich etwas festgefahren, sonst aber gut. Danke der Nachfrage.» Gödu ist ebenfalls verblüfft, atmet scharf und tief ein und – schweigt.
Chrigu wendet sich wieder ihm zu und sagt: «Das mag sein, dass sie nicht rückwärtsfahren kann, dafür kann sie Beine einbinden wie niemand sonst. Und mit den Schläuchen an deinen “Scheichen“ – das habe ich schon vor Jahren im Turnverein gesehen - würde ich es an deiner Stelle mit ihr nicht ganz verscherzen, könnte sein, dass du Frau Kohler auch mal brauchst. Da kannst du dann lange eine Andere suchen, die ihren Job gleich gut macht. Meine Mutter hatte sechs Jahre lang offene Beine, dann ist Frau Kohler gekommen und hat sie überzeugt, sich diese einbinden zu lassen, hat nicht lockergelassen, und hat ihr hartnäckig immer wieder die Notwendigkeit erklärt. Die Verbände von Frau Kohler sind nie verrutscht, waren nie zu fest, nie zu locker. Die Wunden sind abgeheilt und meine Mutter hat jetzt Strümpfe und die ziehe ich ihr jeden Tag an.»
Gödu sagt nichts, steigt nach kurzem Zögern in sein Fahrzeug. Er startet den Motor und fährt rückwärts. Immer wieder muss er korrigieren, seine Fahrweise wirkt insgesamt unsicher. Chrigu und ich schauen uns an – es braucht keine Worte. Wir verabschieden uns, ich bedanke mich herzlich. «Scho guet» sagt er und wir setzen unseren Weg fort. Dem Gödu winke ich beim Kreuzen freundlich zu.
Moral der Geschichte: Lernt Beine einbinden – es kann euch und eure Klient*innen aus schwierigen Situationen befreien und wenn schon nicht Leben retten, so doch die Qualität desselbigen entscheidend verbessern – auf beiden Seiten! Und ja, liebe Leserin E., nicht alles Rückwärtige ist schlecht – aber nur wenn es dem Vorwärts dient.
Bis zum 13.Dezember! Keine Ahnung über was ich schreiben werde – darum lasse ich euch für einmal im Ungewissen…
e.kohler@safw.ch
Ich mag Wörter und deren Bedeutung die die Silbe «Rück» enthalten nicht. Rückwirkend – rückwärts – rückblickend – Rücksicht – rückständig – zurückgeblieben – zurechtrücken – rücksichtsvoll –– Rückkehr – Rückspiegel – Rücktritt – abrücken – mit dem Rücken zur Wand – Rück-halt – den Rücken zugewandt – zur Seite rücken – rück mal ein Stück – einrücken. Höchstens mit «ver-rückt» kann ich mich anfreunden. Lieber stelle ich mich dem Leben und seinen Herausforderungen vorwärts, voll frontal.
Soren Aabye Kirkegaard sagt: «Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden». Auch damit habe ich ein Problem, mein Leben verstehe ich rückwärts meist noch weniger als vorwärts. Wohl nicht zufällig habe ich mit meinem Rücken Probleme, hinterrücks und rücklings verweigerte mir eine Bandscheibe ihre Dienste. Darum schaue ich lieber vorwärts, zu viel Rücksicht lässt uns die Vorsicht verpassen.
Wenn ich voller Rücksicht bin, wie soll ich gleichzeitig nach vorne schauen und meine Klient*innen in ihrer Gesundheitskompetenz weiterbringen? Ihnen einen Weg aufzeigen? Und mich selbst weiterbringen? Ältere Menschen schauen ohnehin zunehmend in den Lebens-Rückspiegel und sehen, dass früher alles besser war. Dass der Rückspiegel das Zurückliegende verzerrt und nur einen kleinen Ausschnitt zeigt, merken sie oft nicht. Die Menschen fixieren diesen Blick zurück, das lässt sie Neues verpassen und Zurückliegendes glorifizieren. «Ich war doch noch nie krank, ich hatte noch nie etwas an meinen Beinen, ich verstehe einfach nicht, wieso die jetzt offen sind. An mir kann es nicht liegen, ich habe nichts gemacht». An uns Wundexpert*innen liegt es dann, die Klient*innen abzuholen und ihnen und ihren Wunden ein Vorwärts aufzuzeigen. Dies fällt mir wesentlich leichter als das Rückwärtsfahren. Im Zug und Bus wird mir schlecht, im Auto kann ich es einfach nicht. Kurvige Strassen über längere Zeit rückwärtszufahren, ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit, da hilft auch keine Rückfahrkamera. Eine ver-rückte Hirnzelle lässt mich das Steuer jeweils zuverlässig exakt in die falsche Richtung lenken und ich komme vom Weg ab.
Die Krux bei der Spitex ist aber, dass ich zu den abgelegensten Häusern, bei jedem Wetter und auf allen unmöglichen Strassen unterwegs bin. Und Getreu Murphys Gesetz, kommt mir jedes Mal ein landwirtschaftliches Fahrzeug entgegen, wenn ich maximal weit von der nächsten Ausweichstelle bin und es an mir wäre, rückwärtszufahren. Zudem ist meist ein Mann am Steuer und ich zu allem Übel noch in einem Spitexauto. Ein klassisches Klischee, die Frau kann nicht Autofahren und es trifft in diesem Moment leider hundertprozentig zu. Emanzipation hin oder her. Also nur fürs Rückwärtsfahren, vorwärts kann ich supergut lenken. Sagt mein Bruder, er ist Lokomotivführer und muss es wissen.
Ich habe mir für diese ausweglosen Fälle eine Strategie zurechtgelegt, ich spiele Mikado. Wer zuerst bewegt hat verloren. Darum bleibe ich, wo ich bin, und weil ich die zunehmend wütenden Gesichter der Männer und ihr Gefuchtel nicht aushalte, schliesse ich sofort die Augen, bis ich höre, dass mein Gegenüber rückwärtsfährt. Dann setze ich sofort nach, bedanke mich mit meinem freundlichsten Gesicht und winke erlöst. Dies hat jahrelang gut funktioniert und ich war mit mir im Reinen. Bis zum Tag X. Ein Geländewagen kommt mir an engster Stelle entgegen. Ich sitze im Auto, schliesse die Augen und warte. Lange. Sehr lange. Anstelle des erlösenden Motorengeräuschs höre ich eine Türe aufgehen und mit lautem Knall wieder schliessen. Mir schwant Übles, schon wird die Fahrertüre meines Autos unsanft aufgerissen, mir bleibt gerade noch Zeit, mein Namensschild zu entfernen. Nicht schwierig sich vorzustellen, was jetzt kommt, ich erspare euch den genauen Wortlaut. Nur so viel, frauenfeindlicher geht es nicht mehr und ich sehe keine Möglichkeit, mich zur Wehr zu setzen, da ich gerade jetzt wenig Gegenargumente finde. Einzig ein «nicht alle Frauen können nicht rückwärtsfahren, es gibt Viele, die können das sehr gut – nur ich nicht» wage ich zu piepsen, das ärgert den Mann noch viel mehr. Besser still sein und zählen – wie immer in schwierigen Situationen. Ich atme tief in mein Bauch-Chakra. Der Mann steigert sich von einem fortissimo zu einem fortissimo forte.
Da höre ich ein Motorengeräusch. Ein Blick in den Rückspiegel – wie eingangs erwähnt bringt ja nie was Gutes – bestätigt das Horrorszenario. Ein weiteres landwirtschaftliches Fahrzeug steht hinter meinem Auto. Ich bin eingekeilt, es gibt nun weder ein Vor - noch ein Rückwärts. Ich beschliesse, meine Arbeit bei der Spitex zu kündigen und mich in einem Wundambulatorium mit hauseigenem Parkplatz zu bewerben. Augen schliessen und weiterzählen – etwas Besseres fällt mir für den Moment nicht ein. Da höre ich hinter meinem Rücken auch schon Schritte in meine Richtung, das zweite Unheil naht. Eine Stimme sagt: «Ja guten Tag, Frau Kohler» - Pause – «Sälü Gödu».
Hier muss ich nun leider unterbrechen. Weil meine Kolumnen immer länger werden und der rollende T. und der fliegende M. endlich lernen müssen, sich in Geduld zu üben. Nachtrag: Gödu heisst natürlich nicht Gödu - ich aber schon Frau Kohler
Bis am 13. November
e.kohler@safw.ch
Folge 6
Ich war an einer Beerdigung, darum habe ich nicht am feministischen Streiktag teilgenommen. Ausnahmsweise habe ich mit meinem Credo gebrochen, nie an Beerdigungen unserer Klientel teilzunehmen. (Wo kämen wir hin, wenn wir zu allen Beerdigungen fahren würden? Das wäre dann wieder “typisch Spitex“, die können sich ja nicht abgrenzen).
Mit der verstorbenen Frau verbindet mich eine ungewöhnlich gewöhnliche Geschichte. Wobei das Ungewöhnliche immer unter dem Gewöhnlichen liegt und erst mit der Zeit zum Vorschein kommt.
Der Start unserer Zusammenarbeit war harzig. Sie wurde von der Hausarztpraxis und ihren Angehörigen mehr oder weniger genötigt, die Spitex zur Wundpflege zu akzeptieren. Die Frau wollte aber keine Spitex, sie wollte niemanden im Haus und schon gar nicht das beschriftete Auto neben dem Haus. Was denken auch die Leute im Dorf?
Entsprechend ihr Empfang, 155cm Ablehnung und Empörung traten mir beim ersten Besuch gegenüber, sogar die Geranien auf den Fenstersimsen wirkten mürrisch. Die Frau, fest entschlossen die Spitex bei erster Gelegenheit wieder loszuwerden, hat sich wahrlich Mühe gegeben, mich nachhaltig zu vertreiben.
Die Wundursache war bald geklärt: Schwellung und Druck als Wundursachen, gute Fusspulse, kein Diabetes, angiologisch blande Biografie. Also, Kompression und Druckentlastung. Zwei überaus komplexe Themen bei Menschen, die meinen, keine Hilfe zu benötigen. Wir diskutierten, lamentierten, parlierten, manipulierten und lavierten beide mit maximalem Einsatz.
Ich fragte sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit in Prozenten ist, dass sie die Kompressionsverbände belässt. «Zehn Prozent» erwiderte sie.
Darauf steige ich generell nicht ein. Ich erklärte, dass ich eine Zusicherung von mindestens fünfzig Prozent brauche, damit ich überhaupt eine Kompression anlege. Sie erhöhte auf dreissig, ich kam ihr bei vierzig entgegen. Wir besiegelten den “Vertrag” per Handschlag. Meine Erfahrung zeigt, dass wenn ich Vereinbarungen so abschliesse, sich die Klienten eher daranhalten.
Nicht in diesem Fall: jedes Kompressionssystem wurde entfernt, die Kompressionsstärke als zu schwach oder zu stark kritisiert, immer wieder selbst neu eingebunden, hinterfragt, abgelehnt und verurteilt. Bei jedem Besuch ein erneutes Feilschen um weniger Einsätze und mehr Selbstbestimmung, bei gleichzeitiger Erwartung einer Turbowundheilung. Sie hat mich richtig geärgert und ich habe sie kräftig zurückgeärgert.
Ein erster Teilerfolg brachte der Zinkleimverband, längere Intervalle, weniger Schmerzen. Ich eroberte einen fixen Platz auf dem Schämeli in der Küche, zwischen Tisch, Spüle und Abfalleimer. Sie sass auf einem Stuhl und legte die Beine auf`s Taburettli. Ich deutlich tiefer auf dem Schämeli, hatte den Eindruck, sie schaute gerne auf mich herab. Nach Langem dann endlich Tauwetter. Ein zubereiteter Minzentee stand plötzlich bei meinem Eintreffen bereit. Becken und Waschlappen waren gerichtet und neue Diskussionsthemen wurden zugelassen.
Während ich meine Arbeit verrichtete liess mich die Frau Schritt für Schritt in ihr Leben eintauchen. Erzählte von schwierigen Zeiten durch den frühen Tod ihres Mannes, zwei Kinder allein gross- und wohlerzogen, Haus und Garten selbst bewirtschaftet, alle Kleider selbst genäht oder gestrickt, dazu eine Arbeit im Verkauf. Zu einem tiefst möglichen Lohn ohne zu murren. Alle Grosskinder gehütet. An der Wand in der Küche hingen ungefähr zehn kleine, gestickte Bilder. Sie zeigten die Hausfrau beim Waschen, beim Bügeln, beim Kochen, beim Flicken, beim Putzen, beim Vorlesen, beim Pflegen - alle selbst gestickt. Diese waren ihr ganzer Stolz. Sie zeigten ihr Leben und ihre Ideale. Wir sprachen über den feministischen Streiktag, Rollenvorstellungen und Werte. Wir waren uns fast nie einig. Auf meinem Schämeli sitzend kam ich buchstäblich nicht auf Augenhöhe. Sie war die Chefin punkto Haushaltsführung, guten Benehmens und Frauenfragen.
Dann bekam die Frau eine Diagnose, die sie zu einer Operation zwang. Bei meinem letzten Besuch vor dem Eintritt ins Spital war sie sehr aufgeregt, hatte Angst und war sichtlich aufgewühlt. Sie wollte noch vieles regeln, zum Beispiel, dass ich verspreche, auch nach dem Spital die Wundversorgung zu übernehmen, und dass ich an dem baldigen feministischen Streiktag doch teilnehme. Obwohl sie erst dagegen war: «Wehren Sie sich, gehen Sie hin. Ich war in meinem Leben immer zu still. Ich habe mich nicht für bessere Löhne eingesetzt, obwohl ich das Geld gebraucht hätte. Setzen Sie sich für die Mitarbeitenden der Spitexorganisationen ein. Ihre Arbeit ist wichtig, das habe ich erst jetzt gemerkt. Lange habe ich schlecht von ihnen gedacht».
Dann hat sie geweint und gefragt: «Warum tut es so weh, von meinem Heim wegzugehen?» Ich bin ihr die Antwort schuldig geblieben, weil ich nicht die richtigen Worte fand. Ich habe ihr versprochen, mich für Frauenanliegen und speziell für Spitexangestellte einzusetzen. Und versichert, dass ich mich freue, sie weiter betreuen zu dürfen. Sie versprach im Gegenzug, nie mehr zu maulen. Und ich stellte in Aussicht, nur noch selten ärgerlich zu werden und schenkte ihr einen Gutschein für fünfmal maulen – auch ohne Grund.
Wir konnten beide nicht ahnen, dass ausgerechnet am feministischen Streiktag ihre Beerdigung sein würde. Und plötzlich fühlte es sich nicht mehr richtig an, nach Bern zu reisen. Auf der hintersten Bank der Kirche erfuhr ich, dass die Verstorbene alle Erwartungen als Frau, Mutter und Grossmutter erfüllt hat. (Am Schluss sogar auch noch fast die der Spitex). Ich zollte ihr Respekt, Anerkennung und Bewunderung und versprach ihr im Geist eine Kolumne. Mit dem Ziel, die Arbeit und das Pflichtbewusstsein dieser Generation Frauen zu ehren und zu würdigen.
Wenig später habe ich dann die richtigen Worte in einem Buch gefunden und wusste sofort: kein Mensch kann es treffender schreiben als Kim de L`Horizon in einem Brief an die Grossmutter (allerdings kann auch kein Mensch verstörender schreiben. Ich habe Sie gewarnt, falls Sie das Buch lesen wollen).
“Ich denke an Sonntagsspaziergänge in Sonntagskleidern. […] Ich denke an die Heerscharen von Hausfrauen, deren Hauptbeschäftigung darin bestand, die Decken und Kleider neu zu ordnen und zu flicken. Ich denke an die Hälfte der Gesellschaft, die für ihre Arbeit nicht entlohnt wurde. Ich denke an den Stolz, wenn du mir erzählst, wie du – nachdem die Kinder gross waren – darauf bestanden hast, arbeiten zu gehen. […] Ich denke an die Gefühle von Hausfrauen. An die enorme Identifikation, die ihr mit eurem Haushalt gehabt haben müsst. An das Gefühl, dass euer Haus euer Körper ist. Eine unaufgeräumte Ecke, von einem Gast gesehen, muss wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein; all die Scham und die Angst, nicht sauber genug, perfekt genug […] zu sein. Ich denke an den Zwang, das Bild einer «guten Familie» aufrechterhalten zu müssen. Eine gute Familie ist eine gewöhnliche Familie. «Gewöhnlich» bedeutet: zu einer Ordnung gehörend. Der Ordnung. Wenn ich an dein Leben denke, denke ich an ein Leben, das für andere gelebt wurde”.*
Euer Haus ist euer Körper – darum tut es so weh es zu verlassen. Leider weiss ich das erst jetzt und es ist schade, dass ich es Ihnen nicht mehr sagen kann. Ich vermisse Sie, liebe Frau.
Am 13. Oktober berichte ich euch, wie meine vermeintliche Emanzipation und mein Kampfgeist in kürzester Zeit in sich zusammenfallen und ich mich in eine aussichtslose Situation hineinmanövriert habe.
e.kohler@safw.ch
*Kim de L`Horizon; Blutbuch; 3.Auflage, 2022; Dumont
"Unaufgeregt und unterhaltsam" sei meine Kolumne, wird mir von einer namhaften Persönlichkeit auf LinkedIn attestiert. Leider bin ich nicht immer unaufgeregt, ich habe meine wunden punkte. Es wird Zeit, auch einmal darüber zu berichten. Diese Kolumne dürft ihr jetzt gerne aufgeregt lesen und sogar leicht hyperventilieren.
Im Juni wurde der feministische Streiktag organisiert. Eingeladen wurden alle Frauen, alle Männer, die LGBTQIA, die TINFA und FLINTA. Die Kindererzieher*innen, alle Tieflohnbezieher*innen, die Gesundheitsfördernden, die Reinigungsbranche, die Musiker*innen. Also eigentlich alle Menschen, nur die misogynen nicht. Wobei, auch diese wären eingeladen. Leider war es ihnen auf Grund der Bezeichnung des Anlasses nicht möglich teilzunehmen. Zum Frauenstreiktag wären sie gekommen (daran hat Mensch sich ja gewöhnt), aber nicht zu einem feministischen Streiktag. Also blieben sie traurig zu Hause, obwohl ihnen wirklich viel an Frauenförderung liegt.
Ich wollte an diesem Tag nach Bern reisen und habe ihn bereits anfangs Jahr violett in meiner Agenda markiert. In meinem Mikrokosmos ist die Welt in Ordnung, da drängt sich kein Streik auf. Der Chirurg und ich haben uns alle Aufgaben redlich geteilt. Er kocht, kauft ein, macht die Wäsche, erledigt das Administrative, bestellt den Garten, flickt die Fahrräder, kümmert sich ums Auto und arbeitet nebenbei auch noch ausser Haus. Ich esse, ernte und geniesse, arbeite und schreibe Kolumnen. Ich wollte aus Solidarität und wegen meinem Arbeitsumfeld teilnehmen.
Dazu habe ich mindestens vier Gründe: Einmal als Frau und Unterstützerin der Frauen- und Minderheitsanliegen. Zudem aus Solidarität mit all jenen, die weder im Mikro- noch im Makrokosmos als gleichwertig wahrgenommen und entlöhnt werden. Drittens, als Pflegefachfrau- hierzu braucht es keine weiteren Ausführungen- und viertens als Pflegefachfrau und Wundexpertin der Spitex.
Als Spitexmitarbeiter*innen werden wir meiner Meinung nach nicht gleichwertig behandelt. Beispiele gefällig?
Wenn bei einem Anlass mangels anderer Themen die Berufe abgefragt werden: Der Chirurg sagt, er ist Chirurg. Dann flammt das Interesse auf, die Aufmerksamkeit ist ihm gewiss. Wenn sich der Bewunderungsschwall dann erschöpft hat, kommt irgendeinmal höflichkeitshalber die Frage an mich:
«Und du, arbeitest du auch?»
«Ja ich arbeite, ich bin Pflegefachfrau und Wundexpertin.»
«Ah, auch im Spital?»
«Nein, bei der Spitex.»
Der Gesichtsausdruck verändert sich, wird leicht mitleidig bis verständnislos. Die Spitexarbeit löst meist keine Folgefragen aus, schon gar nicht in akademischen Kreisen.
Zweites Beispiel: An einem Kongress wurde am Mittagstisch alles, was Rang und Namen hat, vorgestellt. Zufälligerweise brach die Vorstellungsrunde bei mir ab. Die Spitex punktet nicht, das gibt einfach nichts her.
Drittes Beispiel: Während 11 Jahren habe ich als Wundexpertin auch im Spital gearbeitet. Wenn ich etwas vorschlug, hatte dies grosses Gewicht. Bei den Pflegenden wurden die Verordnungen nie hinterfragt. Wenn ich das gleiche als externe Spitex-Wundexpertin vorschlage, lässt die Pflege es durch die Wundexpertin des Hauses überprüfen. Die ersetzt dann den Schaumstoff durch – einen anderen Schaumstoff und bestellt die Betroffenen nach dem Spitalaustritt in die ambulante Wundsprechstunde. Warum haben Pflegende das Gefühl, wenn sie in einer Institution mit grossem Dach arbeiten, besser zu sein als Pflegende in kleineren Betrieben? Denken sie, dass in grossen Betrieben mehr medizinisches Wissen in ihr Hirn diffundiert? Im Kielwasser der ärztlichen Flotte sollte man nur fahren, wenn dies Eisbrecher sind. Es gibt auch brillante Hausärzt*innen, hervorragende Pflegefachfrauen und-männer in Alters-und Pflegeheimen. Aussergewöhnliche Expert*innen in der Spitex. Geniale selbständige Wundspezialist*innen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Spitälern und deren Wundambulatorien, wir brauchen einander! Was ihr nicht wissen könnt, wissen wir. Was ihr in der Klinik nicht könnt, können wir vielleicht zu Hause. Was wir nicht können, könnt ihr. Warum leben wir eine Standorthierarchie innerhalb der Pflege? Ausgerechnet wir, die seit ich denken kann, die Hierarchie kritisieren. Ist das Diskrimination auf Grund des Arbeitsortes? Denkt euch eure Infrastruktur, euren medizinischen Background, eure eingeschüchterte, verantwortungsabgebende Klientel weg. Dann seid ihr mit eurem Rucksack bei den eigenständigen, tonangebenden und selbstbestimmenden Menschen zu Hause und verrichtet die Arbeit, die möglich ist und toleriert wird. Die Arbeit, die ihr alleine verantworten müsst. Bei der ihr gerade niemanden fragen könnt. Patientenzentrierte Pflege? Wo genau ist der Mensch mehr zentriert als in seinem Zuhause? Wären da nicht auch ein paar Punkte zu holen?
Warum ich dann am feministischen Streiktag doch nicht teilgenommen habe, erzähle ich gerne am 13. September. Das ist dann wieder typisch Spitex.
«Wie nein?» frage ich ungläubig, als der Klient mir eröffnet, dass er seinen Tisch nicht freiräumen wird. Er pariert schlagfertig: «Wie kann ein Nein anders als mit einem Nein erklärt werden?» Bauernregel Nummer drei: unterschätze nie den Bauern.
In Windeseile überlege ich mir mögliche "Wyberhaken". Erste Variante: ich bin wütend und mache meinem Ärger lautstark Luft. Soll er selbst zu seinem Bein schauen. Zweite Variante: ich appelliere an sein Mitleid und argumentiere, dass ich ein bisschen Platz brauche, um den Verbandwechsel in Zukunft durchführen zu können. Dritte Variante: ich drohe, wenn ich keinen Platz erhalte, komme ich nicht mehr zu ihm nach Hause. Vierte Variante: ich akzeptiere seinen Willen und arrangiere mich irgendwie, bin beleidigt und unzufrieden und räche mich das nächste Mal mit dem ruppigen Entfernen des Verbands. Fünfte Variante, und für die entscheide ich mich sofort, ich frage ihn: «Was schlagen Sie mir denn vor, damit ich meine Arbeit machen kann und anschliessend keine Rückenschmerzen habe? Was ist ihr Angebot?»
Der Bauer studiert lange (ich fange schon wieder mit dem Zählen an), schliesslich fragt er: «Kann ich auch zu Ihnen in den Stützpunkt kommen?» Er verblüfft mich schon wieder. Bauernregel Nummer vier: nichts anmerken lassen, Pokerface aufsetzen. «Wollen Sie das denn?» frage ich nach, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass er jedes Mal den Weg auf sich nehmen will. «Ja», sagt er, «das ist mir lieber und macht mir nichts aus.» Gar kein übles Angebot denke ich und sehe im Geist meine höhenverstellbare Liege, die Lampe und die ganze Infrastruktur meines Wundzimmers. Wir vereinbaren den nächsten Termin, den er pünktlich einhält, wie auch alle anderen Folgetermine.
Nach angiologischer Intervention, Blutzuckereinstellung, Lifestyleberatung und viel Geduld bei unzähligen Verbandwechseln ist die Wunde ein halbes Jahr später abgeheilt. Wir haben in dieser Zeit hart trainiert, verschiedene Schwünge kombiniert, unsere Kämpfe fair ausgefochten, meist mit einer Prise Humor, dann und wann auch mit Tiefgang. Wir kennen uns nun, wir sind beide keine "Bösen". Zum Abschlusstermin besucht er mich ein letztes Mal im Stützpunkt, und bringt ein grosses Stück Käse mit. Ich nehme die Anerkennung freudig entgegen, bedanke mich herzlich und schaue meinen Schreibtisch an. Auf einem Stapel Blätter, neben Mustern von Wundauflagen, zwischen Bildschirm, Maus und Tastatur, wenn ich Kaffeebecher, Wasserglas und Tablet etwas zur Seite schiebe, exakt an der Seite der Gummiente findet sich ein idealer Platz, um den Käse abzustellen.
Der Abschluss der Wundbehandlung ist für mich immer ein besonderer Moment, viel Freude, aber auch immer ein bisschen Wehmut, weil eine gemeinsame Wundgeschichte zu Ende geht. Der Bauer und ich lassen das letzte Halbjahr Revue passieren, wir sind vertraut miteinander. Wir haben es lustig. So muss es sein. Ich bin guter Laune, der Bauer auch. Für einmal ein Happy End. Ich lockere meinen Stand, entspanne mich und schlage vor, dass ich das Bein in einem Monat nochmals kontrolliere. Und ich biete ihm an bei ihm vorbeizuschauen, wenn ich in seiner Wohngegend bin. Wieder denkt er lange nach, schmunzelt ein wenig und sagt: «Ich komme nochmals zu Ihnen in den Stützpunkt – aber nur, wenn Sie bis dahin Ihren Schreibtisch mindestens zu einem Viertel aufgeräumt haben.»
Mein wunder Punkt ist getroffen, die Zwilchhose heruntergelassen. Im letzten Moment macht der Bauer ein formvollendeter "Brienzer" vorwärts. Ich liege auf dem Rücken im Sägemehl, geschlagen mit den eigenen Schwüngen.
Der Sieg hingegen geht vollumfänglich an ihn, der Kranz, der Muni, die Glocke und die Stabelle dazu.
Wir verabschieden uns mit Handschlag und ich meine zu spüren, dass er mir kurz über den Rücken streicht, um das Sägemehl abzuwischen.
Mir bleibt der Käse vom "Gabentisch".
Bis zum 13. August – falls ich mich bis dahin wieder aus dem Sägemehl aufgerappelt habe?
Alarm im Stützpunkt der Spitex: «Der Mann, hinten im Tal, hat ein ganz übles Bein. Kannst du mal vorbeischauen?». Ich packe Tasche und Koffer – Handdoppler und Monofilament lege ich ganz oben ins Gepäck. Der Diabetes ruft. Wie immer nutze ich die Fahrzeit, um mich zu wappnen – komme was da wolle. Klopfen, eintreten, schon stehe ich mitten in der Küche, mitten in einem mir noch unbekannten Leben. «Grüss Gott, mein Name ist Elisabeth Kohler von der Spitex. Ich bin die Wundexpertin» eröffne ich fröhlich unsere neue Zweckgemeinschaft. Der Mann sitzt auf dem Kanapee hinter dem Küchentisch, schaut vom «Berner Oberländer» auf, mustert mich von Kopf bis Fuss und sagt: «Aha».
Ab jetzt verhalten wir uns wie die Schwinger im Ring zu Beginn des Wettkampfes. Begrüssen, abtasten, Stoff fassen, breitbeinig im Boden verankern, um nur ja nicht den Stand zu verlieren. Wir messen ab und schätzen uns gegenseitig ein. Ich liebe dieses Anfangsritual und weiss, dass jetzt keine Fehler erlaubt sind. Nur keine Hektik - ich zähle innerlich langsam bis dreizehn. Und dann nochmals fünf dazu, schliesslich sind wir im Berner Oberland. «Wollen Sie einen Kaffee?» Ich habe es geahnt - jetzt abzulehnen wäre ein Kapitalfehler. Kurzer Kontrollblick in die Küche – es sieht nicht gut aus. «Gerne» höre ich mich sagen und verwünsche einmal mehr meine Angewohnheit, zuerst zu sprechen und dann zu denken. Es kommt, wie es kommen muss: verkalkter Wasserkocher und Incarom aus der Büchse, der wirklich alten Büchse. Die Tasse ist nicht einwandfrei, der Löffel trüb. Ich schlage mir einen Incaromklumpen ab, immerhin ist das Wasser kochend heiss. «Sind sie wegen meinem Bein hier?» fragt der Bauer. «Ja», erwidere ich. Bauernregel Nummer 1: Je kürzer ich antworte, desto länger spricht mein Gegenüber.
Ich versuche meine Utensilien auszupacken. Dumm nur, dass auf dem Tisch kein freier Quadratzentimeter zu finden ist. Eigentlich nirgends in der Küche. Alles ist belegt, ich behelfe mir mit Stühlen, stelle den Tisch schräg, versuche den Klienten und mich in eine einigermassen bequeme Position zu bringen. Als Arbeitsfläche stehen mir nur mein Koffer- und Taschendeckel zur Verfügung. Meine Kolleginnen haben nicht zu viel versprochen, das Bein sieht wirklich nicht gut aus. Zugegeben, nach dem Waschen schon um einiges besser. Fehlende Fusspulse, schlechter ABI, ausgestanzte Wunde mit lividen Rändern lassen mich nichts Gutes erahnen. Mit dem Monofilament ist die sensorische Neuropathie zudem schnell bestätigt. Ich mache eine Erstversorgung und Dokumentation der Wunde und erkläre dem Mann, dass wir Hilfe brauchen, in der Person der Angiologin, die die Durchblutung kontrollieren muss. Und dass dies kein leichtes Unterfangen wird und wir wohl etwas länger miteinander zu tun haben werden. Ich skizziere ihm das weitere Vorgehen, er hört gut zu, fragt nach und bringt es auf den wunden Punkt: «Wenn kein Blut ins Bein kommt, stirbt es ab».
Wir vereinbaren, dass ich mit dem Hausarzt Kontakt aufnehme und die nötigen Abklärungen in die Wege leite. Wir sind uns so weit einig, es ist erstaunlich leicht gegangen. Ich wähne mich bereits auf der Gewinnerseite, «es glatts Zähni» denke ich...
Meine Siegerlaune verfliegt, als ich ihn um das Freiräumen eines Viertels seines Tisches bitte. Das nächste Mal möchte ich einen Arbeitsplatz – einen Viertel für mich, drei Viertel für ihn finde ich ein faires Angebot. Bauernregel Nummer 2: Arbeitsplatz gleich beim ersten Kontakt erobern und sichern, beim zweiten Besuch wird auf das Gewohnheitsrecht gepocht, beim dritten Mal gibt es keinen Verhandlungsspielraum mehr. Also meine Forderung steht. Der Mann schnäuzt sich umständlich, hustet, kratzt sich im Haar, faltet die Zeitung im Zeitlupentempo zusammen, mustert mich erneut und sagt: «Nein».
«Ein Gestellter» nennt man das beim Schwingen.
Zweiter Gang am 13. Juli?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
e.kohler@safw.ch
BepiColombo ist eine Raumsonde, die unterwegs zum Merkur ist. Sieben Jahre braucht sie, um beim innersten Planeten anzukommen und Erkenntnisse über die Geschichte und Entstehung des Himmelskörpers zu gewinnen. Die Sonde muss während ihrer Reise neun Swingby-Manöver machen, um ihren Kurs neu auszurichten und vor allem um langsamer zu werden. Das heisst, kaum gestartet muss die Sonde bremsen, damit sie ihre angepeilte Umlaufbahn schlussendlich erreicht. Exakt dies musste ich zu Beginn meiner Arbeit als Wundexpertin schmerzlich lernen. Mit dem neuen Diplom in der Tasche, voll - wenn nicht sogar übermotiviert - startete ich meinen Feldzug durchs Berner Oberland. Beim einfachen Bergbauern im Seitental witterte ich den ersten spektakulären Wundfall. Multiple venöse Ulzerationen, infiziert, prekäre hygienische Verhältnisse. Wie gemacht für meine Mission.
Mit dem schwarzen Wandtelefon mit Wählscheibe habe ich den zuständigen Hausarzt alarmiert. Ignorierend, dass der Betroffene weder meine noch ärztliche Hilfe wollte, keine Veränderung und schon gar nicht ins Spital zu bewegen war. Oder zumindest nicht so. In der Meinung, Gutes zu tun, habe ich die Wunden versilbert, ein Antibiotikum organisiert und – wohl das Allerschlimmste – ausgeholt mit meinen ausufernden Belehrungen ab Schulstube. Ohne Punkt und Komma von Hygiene, Infektion und Kompression doziert, ungeachtet der persönlichen Situation des Mannes, ungeachtet seiner Wünsche und Bedürfnissen. Vorbei an seinen Vorstellungen und Werten, vollständig übers Ziel hinausgeschossen und verglüht. Mein Fehlverhalten wurde mir beim zweiten Besuch unmissverständlich gespiegelt: über dem Wandtelefon war eine Kartonkiste genagelt, die Türe zum Zimmer des Klienten von innen abgeschlossen. Kein Durchkommen mehr. Mit Schwung ins Verderben gerast.
Seither sind 15 Jahre vergangen. In unzähligen Missionen habe ich gelernt, Vorbeischwungmanöver einzuplanen, zu bremsen um anzukommen und die Flugrichtung immer wieder neu zu justieren. Geduldig um meine Klienten zu kreisen. Das spart meine Treibstoffreserven, brennt mich nicht aus und ermöglicht ein angenehmes Ankommen. BepiColombo muss die letzten vier Jahre der Reise um die Sonne fliegen, regelmässig zum Merkur zurückkehren um dabei immer langsamer zu werden. Erst dann beginnt ihre eigentliche Aufgabe. Die Reise der Weltraumsonde zeigt, dass der kürzeste und direkteste Weg oft nicht der Beste ist. Ich nehme mir ein Vorbild an diesem Flugobjekt. Nicht, dass mir das jetzt immer gelingt, aber ich bemühe mich, bei meinen Klienten rechtzeitig zu bremsen, um sanft, schmerzarm und rücksichtsvoll auf dem wunden punkt anzukommen.
Lesen wir uns am 13. Juni?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
e.kohler@safw.ch
Erreichen möchte ich euch, die ihr wie ich Menschen mit Wunden betreut. Unser Berufsalltag als Wundspezialistinnen und Wundspezialisten ist reich an Erlebnissen, welche es wert sind, festgehalten zu werden. Ich erhebe keinen Anspruch auf hochstehende, evidenzbasierte Inhalte. Ich erhebe nicht einmal Anspruch auf korrekte Kommasetzung. Es soll auch keine fachliche Weiterbildung sein. Vielmehr sollen meine Kolumnen von der Basis für die Basis sein. Sie sollen unterhalten, zum Nachdenken anregen, vielleicht auch mal zum Lachen bringen. Ich schreibe aus der Ich-Perspektive und lasse euch teilhaben an alltäglichen Situationen aus meinem beruflichen Alltag. Ich mag Menschen und deren Geschichten. Ob ich euch dabei bestätige, begeistere oder gar verärgere ist nicht entscheidend. Wichtig ist mir lediglich, dass ich euch ansprechen und berühren kann.
"Vermarktet" muss die Kolumne nicht speziell werden. Ihr entscheidet, ob ihr meine Texte lesen wollt oder nicht. Angebot und Nachfrage wird das regeln.
Der Output? Keine Ahnung. Nicht alles ist meiner Meinung nach messbar, nicht alles ergibt ein Resultat. Muss es auch nicht. Trotzdem und gerade deshalb: ich habe meine erste Lektion bereits gelernt. Sorgfältiges Prüfen einer Idee, deren Zweck, Ziel und Umsetzung. Es hat mich gezwungen, mich vertieft mit meinem Vorhaben auseinander zu setzen. Und wenn mich das nächste Mal eine Wundklientin fragt: «Möchten Sie nicht ein Buch schreiben?», antworte ich überzeugt: «ja, ich will». Oder mindestens einen monatlichen punkt .
Lesen wir uns am 13. Mai?
Elisabeth Kohler – von Siebenthal
Die Autorin
An der Fachhochschule absolvierte sie den Master in Wound Care. Nebenbei arbeitet sie freiberuflich als Fachdozentin an verschiedenen Institutionen und ist Vizepräsidentin der SAfW. In der Eidgenössischen Kommission für Analysen, Mittel und Gegenstände (EAMGK) vertritt sie die Pflege.
Sie lebt im Berner Oberland und versorgt dort Menschen mit Wunden, auch in den abgelegensten Bergtälern. Sie hat sich mit Kopf und Herz dem Thema Wundversorgung verschrieben und liebt die Menschen und ihre Geschichten. Mit ihrem Humor kann sie von ihrem Alltag berichten, manchmal auch mit einer Prise Ironie.
e.kohler@safw.ch